Dabei sein ist alles?

Was haben ein 95-jähriger Ex-Diplomat, eine chilenische Geographiestudentin, und ein tunesischer Gemüsehändler gemeinsam? Madrilenische Arbeitslose, Arbeiter in Kairo und New Yorker Börsengegner?

Sie alle wurden in den letzten Jahren bekannt, dadurch, dass sie zum Widerstand, zum Nicht-im-Strom schwimmen, zum Handeln aufriefen. In Frankreich hat Stéphane Hessel im Oktober 2010 die Streitschrift “Empört euch” herausgebracht, in welcher er an die Humanität der Menschen appelliert, zu Gewaltlosigkeit aufruft, aber vor der Gleichgültigkeit warnt und Frankreich und die ganze Welt aufrütteln möchte, nicht blind alle Werte auf den Finanzkapitalismus auszurichten. In Chile wurde die 23 jährige Camila Vallejo zur Galionsfigur der studentischen Proteste gegen ein elitäres und diskriminierendes Bildungssystem, größtenteils in privaten Händen und ein Überbleibsel aus der Militärdiktatur der Jahre 1973 - 1990 unter Pinochet. Die Proteste sprachen sich für Bildungsgerechtigkeit und Reformen aus und breiteten sich auf ganz Lateinamerika aus. Der Tunesier Mohamed Bouazizi ist weitaus tragischer zu Berühmtheit gekommen. Seine Selbstanzündung am 17. Dezember 2010, aus finanziellen Sorgen, aber auch Verzweiflung ob ungerechter Behandlung und Polizeigewalt, gilt gemeinhin als Auslöser für die tunesischen Proteste und den anschließenden Sturz des seit 23 Jahren regierenden Zine el-Abidine Ben Ali, und markierte den Beginn des sogenannten “Arabischen Frühlings”.

Die Hintergründe dieser Personen könnten nicht unterschiedlicher sein, die gewählten Methoden um ihren Unmut auszudrücken ebensowenig. Gemeinsam ist ihnen allen eine Unzufriedenheit mit erlebten und beobachteten Ungerechtigkeiten, die sie zum Handeln motivierte. Zum Aufruf zum Widerstand.

Widerstand ist nötig

Arabischer Frühling, Uni brennt, Occupy Wall Street-Bewegung, etc.: Einige Zeichen deuten darauf hin, dass “Widerstand” wieder nötig ist. Die Unzufriedenheit über politischen Stillstand, ausbeuterische Wirtschaftssysteme und globale wie lokale Ungerechtigkeiten ist in den letzten Jahren vermutlich gewachsen, sicherlich aber deutlicher sichtbar und lauter geworden. Beim Wort Widerstand schwingt jedoch auch eine negative Konnotation mit. Wir werden dazu erzogen zu folgen - unseren Eltern, in der Schule, im Gesellschaftssystem. Zum Widerstand erziehen wäre aber genau so wichtig. Sich eine eigene Meinung zu bilden, zu überlegen, ob man im Strom schwimmen möchte, oder es nur aus Gewohnheit, Trägheit oder Angst tut. Das hier soll keine Ode an den Widerstand sein, sondern es geht mir darum politisch aktive und reflektierte Menschen hervorzubringen. Gäbe es davon genug, wäre Widerstand vermutlich weniger oft nötig.

Manche Umstände legen Widerstand näher als andere: Stéphane Hessel wurde geboren in Berlin, wanderte nach Frankreich aus, wurde dort Mitglied der Résistance, entkam aus zwei Konzentrationslagern und war anschließend im diplomatischen Dienst beteiligt an der Formulierung der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen. In seiner Streitschrift schreibt er, dass in den Jahren der nationalsozialistischen Eroberung und des Widerstands sein politisches Bewusstsein entstanden und erwachsen ist. Die Erfahrungen damals prägten sein Verständnis von Recht, Politik und Gesellschaft. In einer Zeit der Unterdrückung und der unübersehbaren Greueltaten mag die Motivation zum Widerstand und zum Hinterfragen tiefer wirken, weil die Gründe offensichtlicher scheinen. Doch auch wenn es scheinbar “eh allen gut geht”, es “anderswo noch viel schlimmer wär” oder “man andere Sorgen hat” (um drei oft gehörte Argumente in politischen Diskussionen zu bringen), sind ein kritischer Zugang und das Bewusstsein über Widerstand als politisches Instrument und gesellschaftlicher Katalysator wichtig.

Aktivwerden

Denn Empörung alleine macht noch keinen Unterschied. Taten müssen empörten Gedanken folgen - und hierbei gibt es gerade in Österreich wenig Kultur - keine Streikkultur, keine Demonstrationskultur, wenig politische Betroffenheit. Das Aktivwerden fällt den Menschen trotz der vielen gebrachten Beispiele deutlich schwerer. Stéphane Hessels Essay “Empört euch” wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und über vier Millionen mal verkauft. Sein Folge-Essay, wenige Monate später, mit dem bezeichnenden Titel “Engagiert euch” nur 100.000 Mal. Bezeichnend.

Zeichen der Hoffnung


Widerstand halte ich aber aus folgendem Grund für so wichtig: Er ist immer auch ein Zeichen der Hoffnung. Gleichgültigkeit resultiert aus Resignation. Im Widerstand steckt neben Empörung immer auch eine Hoffnung, ein Glaube an die Möglichkeit der Veränderung durch Einzelne und auch kleine Schritte. Und Hoffnung ist wichtig. Genauso wichtig ist widerständig sein.

Clemens Huber

kumquat "dazugehören" 3/2012