Von jenen, die nicht gehört werden…
Wie ist es, wenn an etwas sagen muss, sich unbedingt Gehör verschaffen will, um Ungerechtigkeiten aufzuzeigen, um auf unmögliche Missstände hinzuweisen – und niemand hört zu?
Ich kann schreien, ich kann toben und gewalttätig werden, um auf die unerträgliche Situation hinzuweisen – und es ändert dennoch nichts. Wie verschafft man sich Gehör, wenn man in einem Land ohne funktionierender, fairer Rechtsstrukturen lebt und keine Chance hat, seine Meinung in die Welt zu bringen?
In Weißrussland beispielweise ist den Kritiker/innen des Regimes selbst das Schweigen verboten: Bisher haben Gegner/innen der Regierung mit Händeklatschen und Schweigemärschen gegen das Parlament protestiert – selbst das ist durch neue Gesetzte unmöglich geworden. Auch in Tibet gibt es kaum Möglichkeiten, gegen die chinesische Besetzung zu demonstrieren. Als letzten Ausweg zünden sich Nonnen und Mönche selbst an, und opfern ihr Leben als Zeichen ihres Wunsches nach Freiheit.
„Können jene, die aus dem herrschenden System ausgeschlossen und unterdrückt werden, können jene Menschen sprechen?“ So fragt Gayatri Spivak, eine indischen Autorin und Literaturwissenschaftlerin, angesichts der übermächtigen Herrschaftssysteme. Die Frage ist genauso frech wie schockierend. Jenen, denen nicht zugehört wird, die nicht verstanden werden können – können jene denn überhaupt sprechen? Jene Menschen, über die geredet wird, ohne dass sie selber zu Wort kommen können – haben sie denn überhaupt die Macht, ihre Stimme zu nutzen?
Spivaks Antwort: Nein, jene unterdrückten Menschen sind sprachlos (oder vielmehr: sprachlos gemacht worden!). Denn ihre Sprache, ihre Versuche ihre Bedürfnisse zu artikulieren, bleiben ungehört und unverstanden.
Weghören? Gehört weg!
Menschen, die ausgegrenzt und unterdrückt werden, schweigen oft nicht aus freien Stücken, sondern werden vielmehr durch die Machtstrukturen in unserer Welt stumm gemacht. Das können die Machtstrukturen in den jeweiligen Regionen sein – aber auch die weltweiten Strukturen: berichten unsere Medien denn ausgewogen über die Ungerechtigkeiten, die auf der Welt geschehen?
Uns allen ist 9/11 ein Begriff – ein Tag, an dem fast 3000 Menschen in New York durch Anschläge starben. Wieso ist uns nicht 02/08 genauso geläufig? Als Synonym für den 28. Februar 2002, als ein halbes Jahr nach den Anschlägen in New York mehr als 2000 Muslim/innen in Indien von Nationalist/innen gebrandschatzt und ermordet wurden. Manche Ereignisse werden in den Medien kaum erwähnt – vielleicht, weil die Lebensrealitäten an den jeweiligen Schauplätzen so grundverschieden zu unseren Lebensbedingungen hier sind. Vielleicht, weil sie unser Leben hier aus der gewohnten Traulichkeit reißen würden und sich uns Fragen auftun würden, die unsere Weltsicht ins Wanken bringen. Fragen, auf die wir keine Antworten kennen. Fragen, die unser Gewissen zwingen würden, ihnen nachzugehen – und vor allem zuzuhören. Fragen, auf die nur jene Menschen antworten können, die sonst sprachlos gemacht sind, für deren Meinungen sonst kein Raum ist.
Vom Zuhören…
Es geht nicht darum, für jene Unterdrückten, jene „Anderen“ zu sprechen – sondern darum, Möglichkeiten zu schaffen, Wege zu erkämpfen, durch die es möglich wird, dass jene, denen niemand Gehör schenkt, ihre Stimme erheben können und selbst für sich sprechen – und dabei wahrgenommen, verstanden und beachtet werden.
Und um jemand sprachlos Gemachten zu finden und um ihm/ihr Gehör zu schenken, müssen wir nicht lange suchen: denn auch in einer Demokratie wie Österreich, dem 8. reichsten Land der Welt, ist es für einige Menschen kaum möglich, ihre Stimme zu erheben – und auch gehört zu werden.
Es ist nicht üblich, dass Menschen ohne Obdach ihre Sicht der Dinge selbst aufzeigen dürfen und Vorschläge gehört werden, die sie als Auswege sehen. Es kommt auch kaum vor, dass Asylwerber/innen die Möglichkeit haben, aktiv gegen die österreichische Fremdenrechtspolitik aufzutreten – und ihnen Gehör geschenkt wird.
In einer solchen Gesellschaft ist es umso wichtiger, dass wir uns Zeit nehmen und jemandem eines der größten Geschenke machen – ihnen unser Gehör schenken. Das versuchen wir in der Dreikönigsaktion, in dem wir „Anwaltsschaft“ betreiben, also uns als Anwält/innen für unsere Projektpartner/innen in den Ländern des Südens sehen. Dadurch wird ihre Stimme in den österreichischen Medien vertreten, wie zum Beispiel bei den Protesten gegen den geplanten Riesen-Staudamm in Brasilien, durch den die Lebensbasis vieler indigener Völker bedroht ist.
Jemandem unser Gehör schenken, das geht aber auch im Kleinen, zum Beispiel in der Pfarre: Wenn wir in unserer Jungschargruppe nicht über und für unsere Jungscharkinder sprechen, sondern mit ihnen und sie zu den Themen, die sie betreffen, fragen und sie selbst sprechen und entscheiden lassen.
Conni Barger
kumquat "Pssst!" 4/2012