Freiräume und Spielräume für Herzensbildung

Wenn man Menschen meines Alters fragt, welches Ereignis sie politisiert hat, dann sagen die meisten: Schwarz-Blau und das Lichtermeer 1993.

Mir fällt als erstes immer das Sternsingen ein.

Da war ich acht, und das war fast zehn Jahre vorm Lichtermeer. Und mehr noch als das Sternsingen, waren es die Jungscharstunden, die passend zum jeweiligen Schwerpunkt der Dreikönigsaktion ein bestimmtes Land der Welt und seine gesellschaftlichen Verhältnisse im Fokus hatten.

Und mehr noch als das Sternsingen war es wohl vor allem das: das Erleben einer regelmäßigen Gruppe an Gleichaltrigen, außerhalb der Schule, begleitet von Jugendlichen, wo all das gut aufgehoben war, worum es gerade ging: um unser alltägliches Leben und was sich gerade so abspielt: in der Welt, in der Politik, in der Schule, in der Umwelt, mit den Eltern, in uns selbst.

Es ging ums Lernen, dieses Leben in allen Dimensionen zu reflektieren, zu diskutieren, sich eine Meinung zu bilden, diese auch zu sagen und: Spaß zu haben und zu spielen. Ohne Zweck, ohne Noten und ohne Zielvorgabe. Was nie wichtig war: dass irgendwer irgendwas besonders gut kann. Oder dass irgendwer was Bestimmtes leistet.

Ich erinnere mich an die vielen Sommer in einem verschlafenen Dorf am Ende der Welt irgendwo in Niederösterreich. Ein kleines altes Haus mit einem Dach über dem Kopf für uns vierzig oder fünfzig Kinder beim Essen, beim Regen und wenn jemand krank war. Den Rest der Zeit waren wir vierzehn Tage nonstop im Freien: auf der Wiese, bis zum Hals im Bach und in der Nacht im Wald. Es gab nicht den einen Wald, es gab viele Wälder, Waldlichtungen, Hügel und Wäldchen, alle mit eigenem Namen – Codewörter für Eingeweihte und für unsere Erinnerungen durch Jahrzehnte.

In diesen zwei Wochen haben wir uns die Zeit in einer Art und Weise erobert, wie wohl nie wieder danach im Leben: einfach selbst entscheiden, wie spät es gerade ist. Wenn es für ein Spiel in der Nacht früher dunkel sein sollte, dann haben wir die Uhr eben zurückgedreht. Und später dann bei der immer traurigen und sehnsüchtigen Heimfahrt noch tagelang die Zeiger nicht nach vorn gestellt. Obwohl: eine Uhr haben wir eigentlich nie gebraucht. Ein alter Topf und ein Schlüssel haben eh verlässlich den Tag unterteilt in die Spielzeit, die Zeit zum Essen, zum Nichtstun und zum Schlafen. Telefoniert haben wir einmal die Woche aus einer Telefonzelle, die rund 20 Minuten Fußweg entfernt war. Zu zwanzigst sind wir dann zur Telefonzelle marschiert und die, die wollten, haben daheim angerufen mit der einen Telefonkarte. Ab dem zweiten Jahr wollte eigentlich keiner mehr anrufen daheim.

Vierzehn Sommer habe ich in Summe so verbracht. Die Ferien haben sich um die magischen Jungscharwochen herumorganisieren müssen. Es gab die Zeit der alten Jungscharleiter – das waren die Sommer, wo wir zweitägige Rollenspiele gespielt haben, mit einfacher Handlung, keinen Requisiten, und nur uns, der Natur und der Zeit: Zwei Dörfer stehen vor kleinen Herausforderungen: In Dorf eins will Erika eine rote Stromgitarre, für die sie kein Geld hat und in Dorf zwei soll Peter eine Schule in der Stadt besuchen, obwohl er lieber eine Lehre machen will. Dann haben wir uns verkleidet, Rollen ausgedacht, Häuschen gebaut und einfach drauflosgespielt.

„Improvisationstheater“ würde man das heute wahrscheinlich nennen. Gelernt haben wir viel: wie man Hüte aus Huflattich bastelt, wie es ist, die Bürgermeisterin zu sein und wie man mit überraschenden Wendungen gemeinsam gut umgeht. Wie es ist, wenn der Tag an einem vorüberzieht.

Bei den Nachtspielen gab es immer ein Licht irgendwo für alle sichtbar im Wald– eine Andockstation zum Zurückkommen, Teetrinken, Aufwärmen und Ankuscheln. Immer. Außerdem gab es eine Grundregel: Es gibt kein Erschrecken in der Nacht. Eine Policy für Alle. Zwei Dinge habe ich mir da mitgenommen: eine Faszination für die Nacht und was mit den Augen passiert, wenn man die Taschenlampe weglässt und sich auf alle anderen Sinne gut verlässt. Und außerdem der Grundsatz, dass man sich an denen zu orientieren hat, die am Kleinsten sind und die sich fürchten können. Ohne Ausnahme.

Wir haben jeden Tag drei Spiele gespielt – ein Vormittags-, ein Nachmittags-, und ein Abendspiel. Es hat nie jemand dazu gesagt, aber in den allermeisten Spielen ging es darum, gemeinsam etwas zu schaffen, etwas auszuprobieren, etwas zu lösen. Das waren Spiele ohne Konkurrenz und ohne Gewinner*innen und Verlierer*innen. Ausgesprochen wurde das nie - es war einfach so.

Es gab ein Jö – Pfui Plakat zum Aufschreiben: Was war gut heute und was nicht. Feedbackrunden würde man das heute wahrscheinlich nennen. Es gab das „Tam Tam“: das Jungscharlagerparlament. Wo man den Dingen dann nochmal auf den Grund gegangen ist und geschaut hat, wo der Schuh drückt. Das wurde gemeinsam diskutiert, Vorschläge eingebracht und gemeinsam entschieden. „Partizipation in wesentlichen Entscheidungen“ nennt man das heute. Der Vorhang beim Mädchenklo fehlt? Von außen kann man da reinschauen? Ja, das ist unangenehm. Da braucht es eine Lösung. Wundersamerweise haben die Jungscharleiter*innen dann schon über Nacht eine gefunden. Ich erinnere mich genau: am nächsten Tag waren neue Vorhänge da. Rot-weiß-kariert. Selbstgenäht. In diesem Haus, in dem es damals nicht einmal Fließwasser gab.

Dann sind wir größer geworden und es kam eine neue Generation Jungscharleiter*innen. Manches veränderte sich. Es gab Streit im Leiter*innenteam. Es gab Lebensbänder bei den Spielen im Wald und die konnten „abgerissen“ werden. Die Grundstimmung hat sich jäh verändert. Und da haben wir auch gemerkt, wie fragil und verletzlich solche Gefüge sind. Dass Generationenwechsel in Teams auch schmerzhaft sein können. Wir haben gemerkt, dass es manchmal auch an uns liegt, Veränderungen durchzusetzen und dass es strategische Bündnisse und Überlegungen braucht, um diese Veränderungen auch herbeizuführen. „Changeprozesse einleiten“ würde man in der modernen Organisationstheorie wahrscheinlich sagen.  Zu diesem Zeitpunkt waren wir – aus unserer Sicht – alt genug, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, Jungscharleiter*innen zu werden und vor allem zu lernen: bei den Leiter*innengrundkursen auf der Burg Wildegg.

 

Woran ich mich vor allem erinnere: Dass wir in dieser einen Woche auf Grundkurs in einer Art und Weise als erwachsen, verantwortungsfähig und voll genommen wurden wie genau sonst nirgends in diesem Alter. Alles wurde uns zugetraut: die wichtigsten Bausteine der Entwicklungspädagogik kennenzulernen, zu reflektieren, was ein feiner und wertschätzender Umgang mit Kindern eigentlich bedeutet, unsere Verantwortung als Gruppenleiter*innen in vollem Umfang zu begreifen mit allem, was dazu gehört: was es bedeutet, schon mit 16 Jahren automatisch von Kindern Autorität zugeschrieben zu bekommen und wie leicht diese verletzt oder missbraucht werden kann. Es wurde uns zugetraut Gruppen gut zu moderieren, große und kleine. Wir haben gelernt, Plakate gut zu gestalten, Gruppenstunden gut vorzubereiten, Spiele so zu erklären, dass sie verstanden werden. Wir haben gelernt, wovor sich Kinder fürchten, warum Kinder wütend werden und wie sie wieder herauskommen aus der Wut und wie man mit Nähe und Distanz passend umgeht. Wir haben gelernt, wie man Konflikte im Team klärt: mit der passenden Theorie im Hintergrund und praktischen Übungen. Wir haben gelernt, dass es besser ist zu fragen: „Hab ich das verständlich erklärt?“ anstatt „Habt ihr das verstanden?“

Wir haben gelernt, dass es gut ist, mit Worten sorgsam umzugehen, gerade mit Kindern und generell im Leben. Wir haben gelernt, dass es gut ist, nicht auf die Mädchen in Gruppen zu vergessen und Mädchen immer wieder geschützte Räume auch innerhalb einer gemischten Gruppe anzubieten.  Wir haben hundert Nicht-Konkurrenzspiele kennengelernt und zumindest dreissig in dieser Woche selbst gespielt. Auch die Konkurrenzspiele haben wir gespielt, um zu erkennen, wie beschissen es sich anfühlt, zu verlieren. Wir haben auch gelernt gut und klug zu argumentieren: Nein, wir müssen Kinder nicht auf das „harte Leben da draussen vorbereiten“. Es ist viel besser, Kindern mit Feinheit und Zärtlichkeit zu begegnen und sie durch das Aufzeigen von Handlungsalternativen auf die Welt da draußen vorzubereiten. Und außerdem haben wir in dieser Grundkurswoche Henri Purcell und Klaus Nomi kennengelernt, Barocktänze getanzt und getrunken und geflirtet, wie man das mit sechzehn eben macht.

Nach der Woche auf der Burg hat unsere eigene Zeit als Jungscharleiter*innen begonnen. Vieles haben wir wieder eingeführt, vieles haben wir verändert, neu geprägt, falsch gemacht, neu gedacht. Wenn ich heute zurückschaue, dann habe ich in den sieben Jahren extrem vieles von dem, was ich heute in meiner Arbeit täglich brauche und anwende, sehr spielerisch gelernt: eine gute Moderation vorbereiten und durchführen, wertschätzend kommunizieren, Systeme in ihren Grunddynamiken ein bisschen verstehen lernen, gute Plakate schreiben, Leitungsverantwortung übernehmen, kreativ sein, ein Team führen, Großgruppen moderieren, sich zu empören und sich zu engagieren.

Und genau hier liegt das große politische Moment für mich in den vierzehn Jahren Jungscharzeit: für mich war die Jungschar ein sicherer Boden zum Einüben in das Leben in eine Gemeinschaft, die nicht zweckorientiert ist. Es war ein Einüben in Ausverhandlungs- und Beteiligungsprozesse. Es war für mich auch ein spirituelles Einüben weit über ein Religionsbekenntnis hinaus: das Begreifen, dass Menschen aufeinander bezogen sind und einander brauchen. Es war auch ein Einüben in eine Auseinandersetzung mit der Welt – dass es nur die eine und die eine endliche gibt und dass diese Welt eine globale ist und gute Lebensverhältnisse einander bedingen und für alle ermöglicht sein sollen.

Genau dafür bin ich der Jungschar sehr dankbar. Für diese vierzehn Jahre Freiraum und Spielraum. Für diese Jahre an politischer Bildung und Herzensbildung. Für die Möglichkeit, sich auszuprobieren im Begleiten und Moderieren einer Gruppe von Kindern, die mir anvertraut waren. Für den großen Methodenkoffer im Umgang mit Gruppen und Organisationen, den ich mir sonst in vielen Seminaren erst später im Leben und mühsamer hätte aneignen müssen. Für die vielen Menschen, denen ich beruflich begegne und die eine ähnliche Prägung erlebt haben und in ähnlichen Bereichen arbeiten und ähnlich ticken. Für die Freundschaften, die geblieben sind.

Dankbar bin ich auch dafür, dass jedes Jahr einmal die Jungschargruppenkinder der einen Gruppe von damals zum Lasagne-Essen kommen. Sie sind jetzt alle Anfang dreißig und einige von ihnen waren selber Jungscharleiter*innen.

Alles Gute zum Geburtstag, liebe Jungschar. Und das wünsche ich dir und mir: Freiräume und Spielräume für Herzensbildung für alle Kinder von heute und morgen!

Judith Pühringer war von 1984 bis 1998 Jungscharkind und Jungscharleiterin in der Pfarre St. Gertrud in Wien-Währing. Sie ist Geschäftsführerin von arbeit plus – einem Netzwerk von Sozialen Unternehmen in Österreich und in der Armutskonferenz und vielen anderen Projekten engagiert. Der Artikel wurde für die Festschrift der Jungschar Wien zum 70 Jahre Jubiläum der Jungschar 2017 geschrieben.

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