Mythen der Entwicklungspolitik

Bilder der extremen Armut, von humanitären Katastrophen und militärischen Konfrontationen prägen unsere Wahrnehmung der Länder des Globalen Südens. Wieso hat die Entwicklungspolitik der letzten sechs Jahrzehnte daran so wenig geändert? Was kann Entwicklungszusammenarbeit (EZA) leisten und was nicht? Können wir von einem Scheitern der EZA sprechen? Ist Entwicklungspolitik ein überholter Mythos? Oder sind die Erwartungen, die an EZA gestellt werden, nicht selbst Ausdruck von tief sitzenden Mythen? Diese Fragen lassen sich nur im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit Motiven und Interessen von Entwicklungszusammenarbeit beantworten.

Entwicklungspolitik – ein Instrument zur Rettung der Welt?

Eigentlich ist Entwicklungspolitik ein eigenartiges Politikfeld. Welche Politik dient eigentlich nicht der Entwicklung? Wenn ein Staat in Infrastruktur investiert, etwa das nationale Schienennetz oder Autobahnen ausbaut, dann setzt er Entwicklungsmaßnahmen. Dasselbe gilt, wenn Sozialleistungen ausgebaut werden. Wenn wir Entwicklung breit verstehen, dann ist jede Intervention in gesellschaftliche Prozesse eine Entwicklungsmaßnahme.

Mythos 1: Entwicklung ist ein „Problem“ des Südens. Entwicklung gibt es nicht bei uns, weil „wir“ bereits entwickelt sind.
Richtig ist: Auch Österreich ist ein Entwicklungsland. Entwicklung findet immer und überall statt.

In unseren Köpfen wurde eine Trennung eingeführt: Hier die entwickelten Länder, dort die nicht-entwickelten oder unentwickelten Länder, eben die Entwicklungsländer. Entwicklungspolitik ist jenes Politikfeld, das diese Länder berührt und direkt auf Entwicklungsprozesse in Ländern des Südens zielt.

Was aber sind Entwicklungsländer? In einem weiteren Sinn ist jedes Land ein Entwicklungsland. In einem engeren Sinn gehören aber nur jene Länder dieser Gruppe an, die von DAC (Development Assistance Committee) der OECD als solche gelistet werden. Diese Liste umfasst alle Staaten niedrigen und mittleren Einkommens, auch als Less Developed Countries (LDC) und Least Developed Countries (LLDC) bezeichnet.

Entwicklung als Strategie des Kalten Krieges

Wann wurde Entwicklungspolitik „erfunden“? Das Konzept der Entwicklung, wie wir es heute kennen, geht auf das Vier-Punkte Programm des US-Präsidenten Harry Truman von 20. Jänner 1949 zurück: 1. Stärkung der UNO, 2. internationaler wirtschaftlicher Wiederaufbau, 3. Schutz der freiheitliebenden Völker gegen jede Aggression und 4. Entwicklung der wirtschaftlich zurückgebliebenen Gebiete. Amerika sei bereit, außer dem Marshall-Plan und dem Atlantikpakt „neue Projekte“ zur Stärkung der freien Welt in Angriff zu nehmen, so Truman damals.

Dieses Programm stand im Kontext des Kalten Krieges: Es galt, die nun unabhängig werdenden Kolonien für das politische Programm der USA zu gewinnen um sie daran zu hindern, sich mit der UdSSR zu verbünden. Die Idee der Entwicklung war damit ein strategisches Element im Kontext des Kalten Krieges.

Mythos 2: Entwicklung wurde „erfunden“, weil man den „Armen“ helfen wollte.
Richtig ist: Es gab und gibt immer Eigeninteressen.

Freilich ist das Konzept der Entwicklung älter als der politische Diskurs dazu. In der Kolonialzeit bauten die Kolonialmächte Häfen, Eisenbahnlinien, mitunter auch Schul- und Gesundheitseinrichtungen und setzten damit Maßnahmen, die auch heute für Entwicklung wichtig sind. Man sprach damals allerdings mehr von der „Inwertsetzung der kolonisierten Gebiete“. Die Eigeninteressen waren oft leicht erkennbar, dennoch gab es auch damals bereits die Sicht, dass hier eine „Zivilisierungsmission“ betrieben werde, die eine „Bürde des weißen Mannes“ darstelle. Entwicklungshilfe gilt seit damals als selbstlos und solidarisch ‒ was weder früher noch heute immer der Fall ist.  

Die Ambivalenz der Entwicklungspolitik

Daran hat sich bis heute nichts Grundsätzliches geändert: Entwicklungspolitik bleibt ambivalent. Sie dient häufig den Interessen der Geber/innen, vermag aber durchaus auch Maßnahmen zu setzen, die in Entwicklungsländern Verbesserungen bringen. Zahlreiche Staaten verknüpfen Entwicklungsleistungen sehr eng mit ihren wirtschaftlichen Interessen. Entwicklungsfinanzierung wird dadurch oft zur Finanzierung von Eigeninteressen, insbesondere der Exportwirtschaft.

Auch in der Geschichte der österreichischen EZA wurde die Vergabe von Krediten an die Bedingung geknüpft, österreichische Produkte zu importieren. In der Statistik der österreichischen EZA werden die indirekten Studienplatzkosten von Personen aus Entwicklungsländern einberechnet (2010 immerhin 67 Mio EUR), obwohl dies Gelder sind, die in Österreich verbleiben und die Entwicklungseffekte dieser Kosten keineswegs nachweisbar sind.

Mythos 3: EZA einzustellen ist das allerschlimmste.
Richtig ist: Es kommt schon darauf an, welche EZA gemeint ist. Manchmal wäre „bessere EZA“ sinnvoller als „mehr EZA“.

Aufgrund dieser Widersprüchlichkeit gibt es seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, heftige Kritik an der EZA. Nicht wenige fordern ihre Abschaffung. Der Entwicklungsforscher Franz Nuscheler stellt die (rhetorische) Frage, ob denn der Rückgang der offiziellen EZA wirklich so schlimm sei, „wenn doch Kritiker von allen Seiten, von links und rechts, aus dem Norden und zunehmend auch aus dem Süden das »Ende der ODA« keineswegs beklagen, sondern sogar fordern; wenn sie kaum ein gutes Haar an den rund zwei Billionen US Dollar lassen, die in einem guten halben Jahrhundert als sogenannte „Entwicklungshilfe“ vom Norden in den Süden flossen, bzw. zu einem Gutteil im Gestrüpp der „Hilfsindustrie“ hängen blieben. Deshalb konnte auch die keineswegs originelle Fundamentalkritik an der »tödlichen Hilfe« aus der Feder der sambischen Ökonomin Dambisa Moyo zu einem internationalen Bestseller avancieren (Moyo 2009).“ (Nuscheler 2012:23)

Das Problem der Charity

Neben der offiziellen, staatlichen Entwicklungszusammenarbeit besteht der Sektor der privaten Hilfsaktivitäten. Für Österreich sind hier die Aktivitäten von Organisationen der Katholischen und Evangelischen Kirchen von Bedeutung. Daneben bestehen zahlreiche nicht-kirchliche Organisationen, die meist aus politischen Solidaritätsbewegungen entstanden.

Die jüngsten Akteure im Bereich der privaten EZA sind Charity-Organisationen, die mit Hilfe erfolgreicher Fundraising-Kampagnen groß geworden sind: CARE, Licht für die Welt oder die Kindernothilfe konkurrieren mit bereits älteren Organisationen wie dem Roten Kreuz und der Caritas am Spendenmarkt. Auch deren Tätigkeit birgt einen gewissen Widerspruch in sich: Einerseits wird Notleidenden eine konkrete Hilfe gegeben, andrerseits ändert diese Hilfe wenig an den ungerechten Strukturen. Ist es zutreffend, dass Spender/innen mit Gaben an diese Organisationen ihr Gewissen reinwaschen können - ohne ihren Lebensstil verändern oder sich politisch engagieren zu müssen.

Mythos 4: Jede Spende hilft und wirkt.
Richtig ist: Oft hilft das Spenden vor allem dem eigenen Gewissen - und dem globalen Charity-Markt. Man muss schon genauer hinschauen.

Ambivalente Entwicklungszusammenarbeit

Mit der Entwicklung ist es nicht so einfach, wie es zunächst scheint: Da die Armen, denen geholfen wird, dort die Reichen, die helfen. Oft schwindeln sich eigene Interesse der Helfenden ein. Diese können im Endeffekt aber verhindern, dass Entwicklungsmaßnahmen wirklich helfen. Was wichtig ist, dass die Betroffenen selbst bestimmen, was sie brauchen und wie Unterstützung organisiert werden soll. Bei den Projekten der Dreikönigsaktion spielt die Partizipation der Empfänger/innen eine wichtige Rolle: Kein Projekt darf von außen „aufgesetzt“ werden. Im Endeffekt geht es darum, unterdrückte und notleidende Menschen dabei zu unterstützen, selbst für ihre Rechte einzutreten und ihr Leben selbst besser gestalten zu können.

Gerald Faschingeder

kumquat "Mythen" 1/2013