„Freie Bildung für alle!“ war nicht nur der Kampfruf der (studentischen) Bildungsproteste der vergangenen Jahre, sondern ist auch ein Ziel, das man sich auf internationaler Ebene gesetzt hat. Bildung ist einer der Schlüsselfaktoren zu nachhaltiger Entwicklung und bekommt daher in der Entwicklungszusammenarbeit der letzten zwei Jahrzehnte vermehrt Aufmerksamkeit.
„Das echte Problem ist Bildung“
Vergangenen Herbst waren Projektpartner/innen der Dreikönigsaktion aus Äthiopien zu Besuch in Österreich, um in Vorbereitung auf die Sternsingeraktion von ihrer Arbeit aus einem der 500 Projekte zu berichten, die mit den Spenden der Sternsinger/innen finanziert werden. Äthiopien gilt als eines der ärmsten Länder Afrikas, vor allem in den 90er Jahren war es mehrfach durch Hungersnöte in den internationalen Medien. Auch wenn sich die Ernährungssituation leicht entspannt hat, leiden dort immer noch Menschen unter ungerechten Strukturen, Armut und auch Hunger. Dawit, Projektkoordinator des Projekts in Äthiopien hat bei seinem Besuch aber bewusst ein anderes Bild gezeichnet. Er hat sich stets bemüht, den Blick weg von Hunger zu lenken und betont, dass das wirkliche Problem in Äthiopien mangelnde Bildung ist. Essen könne für die Menschen aufgetrieben werden, aber um nachhaltig Veränderung herbeizuführen, bedarf es ganz anderer Mitteln, nämlich die von Wissen, Bildung und Lernprozessen. Erst so können Menschen empowert werden, ihre Rechte wahrnehmen und verteidigen, ihre (z.B. landwirtschaftliche) Produktivität steigern, gesund bleiben und ihre Lebensgrundlagen sichern. Das alles wird möglich durch Bildungsmaßnahmen.
Primärschulbildung für alle
Die Erkenntnis, dass man um die Lebensqualität von Menschen nachhaltig zu verändern, diesen nicht bloß ein Dach über dem Kopf und volle Teller geben muss, sondern Ressourcen zur Verfügung stellen soll, mit denen sich Menschen bilden können, ist keine neue. Auch bei den acht Millenium-Development-Goals der UNO, von der internationalen Staatengemeinschaft in Anbetracht des Jahrtausendwechsels gemeinsam erarbeitete „Entwicklungsziele“, die bis 2015 erreicht werden sollen (und von denen wir leider nach wie vor meilenweit entfernt sind), kommt dieses Thema vor. Gleich nach dem ersten Ziel der Eliminierung von extremer Armut und Hunger, ist die Nummer zwei das Versprechen, dass Mädchen und Buben überall auf der Welt eine Primärschulbildung abschließen (entspricht in Österreich der Volksschule) sollen. 2005 bis 2014 wurde demnach gleich zur Dekade der nachhaltigen Bildung ausgerufen, um diesem Ziel auch entsprechend Ausdruck zu verleihen. Bildung für nachhaltige Entwicklung zielt darauf ab, Menschen Kenntnisse, Fähigkeiten und auch Einstellungen zu vermitteln, die für die Gestaltung einer nachhaltigen Gesellschaft, also einer solchen, die ihre Umwelt und ihr Leben so schonend gestaltet, dass auch zukünftige Generationen noch auf der Erde Ressourcen zur Verfügung haben sollen. Es geht also bei Bildung längst nicht mehr nur um die reine Vermittlung von Skills und „Handwerkszeug“, sondern um ganzheitlicheres Verständnis, das Bildung auch als Weg zu mehr Selbstständigkeit und einem selbstbestimmtem Leben sieht (was eben im Entwicklungskontext oft mit „Empowerment“ gemeint ist).
“If you educate a man you educate an individual, but if you educate a woman you educate a nation”
Dieses (vermutlich) ghanaische, aber auch in anderen Regionen Afrikas verbreitete Sprichwort bringt auf den Punkt, wo viele Bildungsprojekte ansetzen: Bei Frauen und Mädchen. Frauen und Mädchen sind besonders stark von Armut betroffen, haben weniger Zugang zu Ressourcen, und auch zu (Aus-)Bildung (auf allen Ebenen, von der Volksschule bis zur Universität). Bildung wird genau solches empowerndes Bildungspotential zugesprochen, das Frauen stärken soll, sich nicht nur ökonomisch abzusichern, sondern allgemein in ihrem Leben mehr Handlungsspielräume eröffnen soll: Eigene Entscheidungen treffen (z.B. über Berufs- oder Partner/innen-Wahl), sich gegen patriachale Strukturen behaupten, und somit gesamtgesellschaftlichen Wandel herbeiführen.
Frauen wird gerne auch besonderes „Potential“ zugesprochen, sie sind besondere Hoffnungsträgerinnen, was gleichzeitig die Mehrfachbelastungen, denen Frauen überall auf der Welt ausgesetzt sind (Hausarbeit, Erziehungsarbeit, Erwerbsarbeit bzw. Subsistenzwirtschaft, also der Produktion oder dem Anbau von Nahrungsmitteln für den Eigenbedarf), noch erhöht, weil sie nun auch noch „Entwicklung“ voran treiben sollen. Es zeigt sich also ein ambivalentes Bild.
Wer bestimmt, was Bildung ist?
Doch der Schrei nach universeller Bildung für alle wirft auch Fragen auf. Wer bestimmt, was „Bildung“ ist, also welche „Inhalte“ hier transportiert werden? Wer sagt, dass Algebra sinnvoller ist als Wissen über seine Vorfahren und Traditionen? Wer entscheidet, dass eine Fremdsprache zu lernen wichtiger ist, als indigene Kräuterrezepturen oder Fischfangpraktiken weiterzugeben? Auch im Bereich der Bildung stellt sich die Frage der Definitionsmacht: Wer bestimmt, was gelernt werden soll? Der in den MDGs (Millenium Development Goals) so explizit geäußerte Anspruch auf Universalität, zwingt ethnischen Gruppen und Communities eine nach westlichem Vorbild orientierte (Grund-)Schulbildung auf, die solchen Konzepten teilweise sehr ablehnend gegenüber stehen. Oft haben diese die Erfahrung gemacht, dass viele ihrer Kinder, die über standardisierte Bildungswege eine Ausbildung gemacht haben, die Dörfer verlassen, um in den umliegenden Städten Arbeit zu finden und sich die Communities somit vor existenzielle Probleme gestellt sehen, ihren Fortbestand und die Aufrechterhaltung ihrer Kulturen betreffend.
Indigenes Wissen nicht nur schützen, sondern anwenden
Aber auch in dieser Hinsicht tut sich auf internationaler Ebene vieles. Einseitige Wissenstransfers, die in der Regel so ablaufen, dass westliches, hegemoniales Wissen von „Weißen“ in andere Kontexte vermitteln wird, wird als Bildungskonzept schon lange in Frage gestellt und zusehends aufgebrochen. Versucht wird dies, durch das Eingehen auf lokale Kontexte, Miteinbeziehung von lokalem Wissen und Expert/innen und vermehrten Süd-Süd-Kooperationen. Auch in Anbetracht des Scheiterns westlicher Konzepte in vielen Bereichen, wie etwa Entwaldung oder Bodenerosion, wird indigenes Wissen zusehend als Zukunftswissen gesehen, von dem man weltweit profitieren kann. 2002 wurde zum Beispiel Indigenous Knowledge and Peoples (IKAP) von Vertreter/innen indigener Völker aus Südostasien und China gegründet, mit dem Ziel der Erhaltung und Revitalisierung indigenen Wissens, Vernetzung indigener Gemeinschaften und Training und Beratung für Entwicklungsorganisationen, nur um ein Beispiel anzuführen. Auch im Wissensbereich können wir „Industrieländer“ noch einiges lernen. Denn ausgelernt, hat man bekanntlich ja nie.
Clemens Huber
kumquat "Bildung" 2/2013