Gewaltfrei?!

Ein Artikel über das Potenzial von Gewaltlosigkeit.

Gewalt hat viele Gesichter. Wir sind tagtäglich mit vielen von ihnen konfrontiert. In diesem Artikel geht es vor allem um Gewalt im gesellschaftlich-politischen Bereich und meint Unterdrückungs- und Unrechtssituationen wie gewaltvolle Konflikte und Kriege.

Wenn wir darüber nachdenken, zu welchen gewaltvollen Konflikten wir Bilder im Kopf haben, werden uns wahrscheinlich einige einfallen: der zweite Weltkrieg vielleicht sogar aus Erzählungen innerhalb der Familie, der Nahostkonflikt aus den aktuellen Medienberichten. Unser Kopf ist voll mit diesen und anderen gewaltvollen Bildern. Manchmal, wenn ich Nachrichten schaue oder höre, habe ich das Gefühl, in einer sehr gewaltvollen Welt zu leben. Diese Konflikte wirken sehr groß und übermächtig. Und ich frage mich, ob es möglich ist, trotz der komplexen und schwierigen Ursachen und Auswirkungen aus einer Beobachter/innenrolle auszusteigen, mich einzumischen und zu einer gerechteren Welt beizutragen. Können Menschen mit friedlichen Mitteln Gewalt überwinden? Oder ist Gewalt unter bestimmten Mitteln legitim? Um diese Fragen zu beantworten ist es zuerst notwendig herauszufinden, was Gewaltfreiheit bedeutet.

Dem Unrecht die Stützen entziehen

Zwei sehr bekannte Menschen, die Gewaltlosigkeit erfolgreich lebten und prägten sind Mahatma Ghandi, durch sein Verhalten und Engagement während der indischen Unabhängigkeitsbewegung, sowie Martin Luther King, der in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung stark aktiv war. Weniger berühmt ist vielleicht der Friedensnobelpreisträger Adolfo Perez Esquivel, der sich in Argentinien auch während der Militärdiktatur sehr aktiv für Menschenrechte einsetzte. Oder Jean Goss und Hildegard Goss Mayer, die als junge Menschen den zweiten Weltkrieg und die davon ausgehende Gewalt in Europa miterlebten und sich bewusst dafür entschieden, sich für in ihrem Leben für Gewaltlosigkeit einzusetzen, indem sie in den unterschiedlichsten Konfliktregionen (sie bereisten unter anderem Brasilien während der Militärdiktatur, die Philippinen, den Kongo,...) Menschen unterstützten, sich aktiv gegen Gewalt einsetzten.

Versucht man das Konzept von Gewaltfreiheit zu erklären, kann Gewaltfreiheit zum Beispiel als aktive und lebensverändernde Kraft definiert werden, die Unrecht mit Hilfe von gewaltfreien Mitteln aktiv überwindet.

Der wichtigste Pfeiler der gewaltfreien Aktionen ist das (gewaltfreie) miteinander Sprechen, der Dialog. (Mehr Informationen zur Gewaltfreien Kommunikation findest du in diesem Kumquat auf Seite 8.) Um über das Unrecht zu sprechen und gemeinsam Alternativen zu finden, ist es notwendig zu wissen, welches Unrecht passiert und wer dieses Unrecht stützt. Auch die Menschen, die nicht direkt gewaltvoll handeln, aber nichts gegen die Gewalt tun, sind eine Stütze des Unrechts.  Somit ist der erste Schritt, immer selbst aktiv zu werden und zum Beispiel mit anderen Menschen zu reden.

Eine wichtige Grundhaltung im gewaltfreien Tun ist Respekt und Akzeptanz gegenüber dem/der „Gergner/in“. Gewaltfreiheit meint das unrechte und ungerechtfertigte Handeln aufzuzeigen und Alternativen einzufordern. Es geht darum das Unrecht, und nicht Menschen, zu bekämpfen.

Wie gewaltfreies tun konkret ausschauen kann, will ich an Hand der folgenden Beispiele erklären.

Brücken statt Mauern

Eine sehr konfliktreiche Region ist Isreal/Palästina: die Interessen der (mehr oder weniger) muslimischen Araber/innen (auch „Paläs­tinenser/innen“ genannt) stehen den Interessen der (von streng bis libaralen) Juden und Jüdinnen (auch „Israelis“) gegenüber. Landnutzung ist ein wesentlicher Konfliktpunkt der beiden Parteien: seit Jahren wird um eine Lösung debattiert, in der sowohl Palästinser/innen als auch Israelis genug Land zur Verfügung haben. Verschärft wird der Konflikt durch internationale Akteur/innen.

In den letzten Jahren wurden zahlreiche Mauern und Zäune im palästinensischen Westjordanland (auch Westbank genannt) von den Israelis errichtet. Bekannte Städte des Westjordanlandes, in denen teilweise eine Mauer durch die Stadt verläuft, sind zum Beispiel Jerusalem, Betlehem, Jericho oder Hebron. Auch rund um den Gaza Streifen, der Gaza Streifen ist palästinensisches Gebiet, sollen Mauern und Zäune die israelischen Bevölkerung vor Angriffen der Palästinenser/innen schützen.

Diese Zäune und Mauern gehen vor allem auf palästinensischem Gebiet durch Oliven- und Zitronenhaine und erschweren den Menschen ihr Leben und ihre Arbeit. Neben Zäunen und Mauern ist die Bewegungsfreiheit der Bewohner/innen des Westjordanlandes durch besetzte Siedlungen, Checkpoints und Sperranlagen stark beeinträchtigt.

In dieser schwierigen Situation engagieren sich einige Menschen gewaltfrei. Die christlich palästinensische Familie Nasser zum Beispiel hat auf ihrem Stück Land, das von einer Landumwidmung betroffen ist, das Zelt der Nationen gegründet. Jugendliche aus der ganzen Welt sind dorthin eingeladen mit dem Ziel, zu mehr Respekt und Verständnis zu gelangen, sich gemeinsam für Frieden zu engagieren, sich in der Region gegen eine Landnahme einzusetzen, indem man anwesend ist und beobachtet (http://www.tentofnations.org/index.htm). Auch die „Rabbiner für Menschenrechte“, ein Zusammenschluss von jüdischen Rabbinern, setzen sich für Rechte von Palästinensern ein, geben ihnen zum Beispiel Geleitschutz bei der Olivenernte in ihren eigenen Olivenhainen, die mittlerweile auf einem Gebiet stehen, das sie nicht betreten dürfen. Oder das von jüdischen und arabischen Staatsbürger/innen gegründete Friedensdorf „Neve Shalom / Wahat al Salam“ - das bedeutet auf hebräisch (israelische, jüdische Sprache) und auf arabisch (palästininsische, muslimische Sprache) „Oase des Friedens“ (http://nswas.org).

Hier leben heute rund 40 Familien friedlich zusammen leben. Die Kinder besuchen eine zweisprachige Schule im Dorf. Eine Friedensschule leistet Friedensarbeit, die über die Dorfgrenzen hinausgehen: junge Araber/innen und Juden und Jüdinnen bekommen hier Raum und Input, um sich mit dem aktuellen Konflikt auseinanderzusetzen und sich in Folge evtl. für gegenseitiges Verständnis und Frieden einzusetzten. Außerdem werden mit Hilfe eines Programmes Palästinenser/innen, die stark vom aktuellen Konflikt betroffen sind, unterstützt. Das Dorf kann besucht werden, und wird auch von internationalen Freiwilligen unterstützt.

We refuse to be enemies

Ein weiteres, sehr starkes Beispiel für aktive Gewaltfreiheit befindet sich auf einem anderen Kontinent: die Friedensgemeinde Comunidad de Paz San José de Apartadó in Kolumbien. In Kolumbien kämpfen Paramilitärs, staatliche Sicherheitskräfte und Guerilla-Organisationen um die Macht in der an Bodenschätzen, vor allem Öl, Erz und Kohle, reichen Region. Drogenhandel trägt zur Verschärfung des Konfliktes bei. 1997 schlossen sich einige kleine Siedlungen in diesem Gebiet zu einer neutralen und unbewaffneten Gemeinschaft zusammen. Heute leben rund 150 Menschen im Dorf, die ihr Recht auf ein Leben in Frieden leben.

Die Gemeinde lebt nach selbst verfassten Regeln: den Angehörigen der bewaffneten Kriegsparteien ist der Zutritt auf ihr Wohn- und Arbeitsgebiet verwehrt, sie sind neutral und geben keine Informationen an bewaffnete Gruppen weiter, die Mitglieder der Friedensgemeinde beteiligen sich an Gemeinschaftsarbeiten, Drogen und Alkohol sind innerhalb der Gemeinde verboten. Ein gewählter interner Rat übernimmt Verantwortung innerhalb der Gemeinde, vermittelt zum Beispiel bei Streitfällen und repräsentiert die Gemeinde nach außen.

Obwohl die Bewohner/innen neutral sind und nicht gewaltvoll handeln, wurden schon über 150 Bewohner/innen seit der Gründung des Dorfes ermordet oder sie verschwanden. Die Gemeinde nennt hauptsächlich die paramiltärischen Gruppierungen als Täter/innen, in kleinem Maße auch die Guerilla Gruppen. Trotz dieser Gewalt bleiben die Bewohner/innen bei ihrem neutralen und friedlichen Lebensstil und geben ihr Recht auf Frieden nicht auf. Damit dieser Gewalt Einhalt geboten werden kann, existiert seit einiger Zeit ein Begleitprogramm: zwei internationale Freiwillige leben pro Jahr in der Gemeinde um durch ihre körperliche Anwesenheit die internationale Aufmerksamkeit auf die Gemeinde zu lenken und somit die Gefahr von politischen Morden und Massakern zu reduzieren und die Gemeinde in ihrem gewaltfreien Widerstand zu unterstützen.

An eye for an eye makes the world blind

Die beschriebenen gewaltfreien Aktionist/innen machen für mich spürbar, dass Gewaltfreiheit eine lebbare Alternative ist. Ich finde es sehr inspirierend, dass Menschen sich sogar unter lebensbedrohlichen Umständen für Frieden einsetzen, weil sie der Überzeugung sind, dass Gewalt Schmerz und Leid verursacht und weitere Gewalt hervorbringt. Sehr beeindruckend finde ich folgendes Zitat von Adolfo Esquivel Perez, der im Zuge seines gewaltfreien Engagements einige Male eingesperrt wurde und sich trotz Folterung nicht von seiner Überzeugung abbringen ließ:

„Wenn Du im Gefängnis sitzt, wenn sie dich foltern und quälen, wenn sie dich zu einer Nummer machen, zu einem Nichts, dann gibt es für dich zwei Möglichkeiten zu überleben: Erstens: Du öffnest dein Herz der Gewalt. Du lebst nur noch aus der Hoffnung auf die Vernichtung deiner Gegner. Wenn du das tust, tötest du zweimal: Deinen Gegner – und dich selber. Oder aber: Du öffnest dein Herz so weit der Liebe, dass du darin sogar Platz findest für deinen Peiniger. Wenn du das tust, dann schenkst du zweimal Leben: Deinem Peiniger – und dir selber.“

Bei so viel Engagement fühle ich mich dabei bestärkt, in meinem eigenen Umfeld aktiv zu werden, meine Verantwortung wahr zu nehmen, mich für ein friedliches miteinander in Österreich einzusetzen und so weit wie mir möglich auch international. Gewaltfreiheit heißt für mich nicht, Ghandi oder Martin Luther King werden zu müssen sondern mich von ihrem Einsatz ermutigen und inspirieren zu lassen. Gewaltfreiheit heißt für mich hinzuschauen, wo Menschen unterdrückt werden. Einzuschreiten, wo es mir möglich ist. Mich mit anderen zusammentun, mich über meine Rechte informieren, anderen Menschen ihre Rechte und ihre Verantwortung aufzeigen, sie auf Realitäten aufmerksam machen, die geändert werden müssen. weil sie Menschen verletzen. Gewaltfreiheit heißt für mich, Zivilcourage und gewaltfreie Kommunikation so lange zu üben, bis ich sie anwenden kann. Gewaltfreiheit heißt für mich, selbst aktiv zu werden ohne andere Menschen zu verurteilen...

Weitere Informationen rund um Gewaltfreiheit findest du auf der Homepage des internationalen Versöhnungsbundes unter www.versoehnungsbund.at.

Betti Zelenak

Filmtipp: Lemon Tree

Der Konflikt in Israel/Palästina ist sehr dicht und für Außenstehende vielleicht schwer fassbar. Der Film Lemon Tree gibt einen Einblick in Themen des Konfliktes: Eine palästinensische Frau, Salma, bewirtschaftet an der so genannten grünen Linie im Westjordanland einen Zitronenhain, den sie von ihrem Vater geerbt hat. Als der israelische Verteidigungsminister ihr Nachbar wird, sollen die Bäume gefällt werden, um die Ministerfamilie zu schützen. Salma versucht sich gegen dieses Unrecht zur Wehr zu setzen.