Gedanken zur Frage, warum uns Vergebung manchmal so schwer fällt
Jerusalemer Tempel, ca. 30 n. Chr., später Nachmittag. Die Menge lauscht aufmerksam den Worten Jesu, als unter großem Tumult eine Frau hereingebracht wird. “Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt. Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Nun, was sagst du?” Jesus erhebt sich zum Gespräch mit dieser Frau und fragt: “Frau, sprich: Wirst du hingehen und weiter sündigen, wenn ich dir deine Tat jetzt und hier vergebe?” “Herr, ich kann dir kein Versprechen geben, das zu halten ich vielleicht nicht in der Lage sein werde.” Jesus überlegt, schreibt im Sand, die Menge wird bereits leicht nervös. Tuscheln ist zu hören. Dann erhebt sich Jesus mit einem Stein in seiner Hand und sagt: “Gut, wenn das so ist …” Und schon fliegt der erste Stein.
Schuldig oder Unschuldig?
Wiederverheiratete Geschiedene sind in der katholischen Kirche vom Empfang der Sakramente ausgeschlossen. Außer sie versprechen, in dieser zweiten Ehe auf Sexualität zu verzichten. Eine bewusst geforderte Verleugnung von Bedürfnissen und Zuneigung! Und schon fliegt der zweite Stein.
Homosexuell empfindende Menschen dürfen zwar in der Kirche tätig sein und sollen laut Katechismus nicht zurückgesetzt oder diskriminiert werden, jedoch muss ihnen klar sein, dass sie ihre sexuelle Identität nicht ausleben dürfen. Eine Ungleichbehandlung par excellence! Dritter Stein.
Die Leute im Tempel wollen von Jesus eine rasche, einfache Antwort. JA oder NEIN, RICHTIG oder FALSCH, SÜNDE oder nicht? Das Problem dabei: Rasche Antworten sind zwar immer einfach, aber meistens falsch - weil sie nur das Prinzip, aber nicht die Person im Blick haben. Jesus macht es sich in der Situation im Tempel (die originale Bibelstelle findest du bei Joh 8) nicht einfach. Obwohl die Gesetzeslage eindeutig ist, verurteilt er die Frau nicht.
Eine Ausnahme stellt nicht die Regel in Frage!
In der ORF-Pressestunde am Palmsonntag 2012 betonte Kardinal Christoph Schönborn (bezogen auf seine Entscheidung, die Wahl eines in eingetragener Partnerschaft lebenden, homosexuellen Pfarrgemeinderats zu bestätigen) diese Haltung, die allzu rasche Antworten vermeidet: “Wir halten an der Regel fest, aber wir schauen auch auf die Situation des einzelnen Menschen”. Das ist alles andere als einfach, das ist nicht bequem.
Für uns ist dies eine Aufforderung, pastoral verantwortliche Entscheidungen zu finden, die auf die konkreten Menschen schauen und diesen gerecht werden - am besten mit den Betroffenen gemeinsam. Das bedeutet nicht, dass ich mit allen Verhaltensweisen einverstanden sein muss oder diese gutheiße. In der Gemeinschaft der Kirche kommt es nämlich auch darauf an, Widersprüchlichkeiten auszuhalten. Ich akzeptiere, dass der und die andere “anders” ist. So, wie ich mich darauf verlasse, von der Gruppe getragen und ertragen zu werden, wenn ich in der ein oder anderen Frage in Theorie und Lebenspraxis abweiche.
Klar: In jeder Gemeinschaft muss es Regeln geben, die diese Gemeinschaft als solche definieren und aufzeigen: “du passt zu uns” und “du passt nicht zu uns”. Es stellt sich aber die Frage, welches Verhalten ab welchem Zeitpunkt tatsächlich nicht mehr zur Haltung der Gemeinschaft passt - und wer das entscheidet. Aus christlicher Perspektive kann festgehalten werden, dass ein Verhalten, das einem selber oder jemand anderem nicht gut tut, falsch ist (vgl. Goldene Regel “Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihr ihnen ebenso” Lk 7,12 od. Mt 6, 31), genau wie eine Haltung, die sich konsequent gegen die Gemeinschaft richtet und die letztlich das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe verletzt. Ein derartiges Verhalten führt dazu, dass diese Person sich aus der Gemeinschaft ausschließt, sich “absondert” (das ist übrigens die Wurzel des Wortes “Sünde”).
Vergeben oder verurteilen - oder einfach akzeptieren?
Es ist aber auch entscheidend, wie die Gemeinschaft auf vermeintlich oder tatsächlich “abweichendes” Verhalten reagiert: “Ich hab nichts gegen Schwule, ich will nur nicht, dass sie in meiner Firma arbeiten”. “Mir egal ob die wieder heiratet, solang sie sich nicht einbildet, dass sie noch zum Kaffetratsch eingeladen wird”. “Meine Frisörin verdient beim Pfuschen viel mehr als wenn sie wo angestellt wär. Wär ja schön blöd, wenn sie da die Hälfte ihres Lohns ans Finanzamt zahlen würd”: Wir urteilen ständig. Wenn jedoch aus unserem Urteilen Verurteilungen werden, die Menschen ausschließen (wollen), dann steht Entscheidendes auf dem Spiel. Darauf wies Kardinal Schönborn in seiner Predigt am Pfingstsonntag 2012 hin, in der er betonte, dass Jesus die Jünger beauftragt habe, zu vergeben, nicht zu verurteilen. Paulus habe als Früchte des Geistes Gottes Liebe, Friede, Freude, Langmut, Freundlichkeit, Güte und Treue genannt. Die Kirche müsse sich daher die Frage stellen, wieso ihr Vergebung manchmal so schwer fällt. Heutzutage herrsche bedauerlicherweise bei vielen Menschen der Eindruck vor, der Kirche gehe es “zuerst um Verurteilung und Ablehnung” und sie seien “in der Kirche nicht willkommen”.
Jesus gibt keine einfache Antwort im Tempel. Genau so sollten wir uns vor allzu einfachen Antworten hüten. Und uns fragen, wie wir mit Menschen umgehen, die in der ein oder anderen Weise “anders” sind. Wie reagieren wir als Pfarre, wenn ein/e Gruppenleiter/in sich als homosexuell outet? Wie gehen wir mit der Situation um, wenn Lebenspläne scheitern oder Partnerschaften zerbrechen? Haben Angehöriger anderer sozialer Gruppen und Schichten bei uns einen Platz oder fühlen sie sich ausgegrenzt?
Wenn wir alle von Gott nach seinem Ebenbild geschaffen sind (Gen 1, 27 Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.) könnte man doch daraus schließen, dass wir gewollt sind mit all unseren Entscheidungen, die wir treffen, weil sie uns für uns selbst richtig und für andere nicht verletzend erscheinen und auch mit den Fehlern, die durch unsere Entscheidungen manchmal folgen. Dabei ist eine Unterscheidung wichtig:. Zwischen bewussten Entscheidungen wie einer Scheidung und z.B. einer biologisch vorab angelegten sexuellen Orientierung.
Ein Ort des akzeptierten Miteinanders
Wenn wir es durch unser konkretes Verhalten schaffen, dass Kirche als ein Ort erlebt wird, an dem Versöhnung unterschiedlicher Standpunkte und Lebensweisen stattfinden kann, dann wäre schon vieles gewonnen. Christliche Gemeinden waren nie ein Ort der Perfekten, Vollkommenen und Sündenfreien. Nur wenn wir als Kirche spürbar versöhnlich, einladend und offen sind, stehen wir den Menschen, die Gott suchen und finden wollen, uns selbst und letztlich Gott nicht im Weg.
Das wäre doch ein geeigneter Schutzhelm gegen die vielen Steine, die oft vorschnell in die Hand genommen werden und die uns tagtäglich um die Ohren fliegen.
Gregor Jansen und Nika Fürhapter
kumquat "dazugehören" 3/2012