Wenn die Worte „Kirche“ und „Tabu“ in einer Zeile vorkommen, denkt man schnell daran, dass die Kirche den Menschen alles, was Spaß macht, verbietet. Es scheint so, als würde die Kirche das Leben ihrer Mitglieder durch Vorschriften und Verbote erschweren wollen.
Das Private
In diesem Artikel wollen wir der Frage nachgehen, warum die Kirche sich auch zu privaten Bereichen des Menschen äußert und warum sie das vielleicht sogar muss. Die Aufklärung brachte die Trennung von Arbeitsplatz und Wohnraum mit sich. Der Mensch wird nicht mehr nur (oder hauptsächlich) als Arbeitskraft gesehen, sondern die Arbeit macht nur mehr einen Teil des Lebens, eine Facette des vielschichtigen Menschen aus. Es eröffnet sich der Raum des Privaten als Rückzugsort, als selbstbestimmter Raum. Diese Errungenschaft, dieses Zugeständnis, diese Veränderung der Sicht auf den Menschen war und ist von sehr großer Bedeutung. Die drei großen Schlagworte der französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ wurden zur „Zusammenfassung“ dieser Wende.
Heute ist allgemein einiges zu beobachten, was eigentlich einen Rückschritt hinter diese Weitung darstellt: z.B. verhalten sich manche Medien gegenüber der Privatsphäre der Menschen oft unsensibel oder gestehen sie manchen in der Öffentlichkeit stehenden Personen erst gar nicht zu; mittels Handy, E-Mail und anderen technischen Möglichkeiten meinen manche Menschen, rund um die Uhr für alle erreichbar sein zu müssen; in Fernsehsendungen wie „Big Brother“ offenbaren Menschen freiwillig (!) alles, was sie den ganzen Tag über tun und denken; starre Arbeitsverhältnisse und fehlende Angebote von Firmen drängen manchen Paaren eine kinderlose Lebensform auf, die Familienplanung wird auch von staatlichen Gegebenheiten beeinflusst.
Evangelische Räte
Wie steht es in diesem Bezug um die Kirche? Mischt sie sich nicht in Privaträume des Menschen ein und erlässt Vorschriften, die den Menschen das Leben scheinbar erschweren?
Die sogenannten evangelischen Räte sind Weisungen aus der Verkündigung Jesu. Sie umfassen Armut, Enthaltsamkeit und Gehorsam, in diesen Bereichen möchte die Kirche den Menschen in ihr Vorbild sein und muss sich einmischen.
Enthaltsamkeit - Jungfräulichkeit/Ehelosigkeit:
„Jungfräulichkeit um des Himmelsreiches Willen“ nach Mt 19,12 formuliert eine spezielle Form der Nachfolge, die durch das Fehlen einer sexuellen Beziehung die Ganzhingabe an Gott verdeutlichen soll. Gott und die je eigene Form der Nachfolge nehmen so viel Raum ein, dass für eine/n Partner/in kein Platz ist. Allgemein geht es darum, das Leben durch den Glauben gestalten zu lassen und auch Entbehrungen bewusst und freiwillig einzugehen. Nicht alle Menschen sind zur Ehelosigkeit berufen, es ist zentral dem nachzugehen, was die eigene Berufung beinhaltet. Die Berufung zu einer gewissen Lebensform ist der Ruf Gottes, der in der Bibel als Gnade umschrieben wird, welche Gott uns schenkt und lenkt. Jeder Mensch ist gerufen von Gott, daher „mischt“ sich die Kirche ein, um ihn hörbar zu machen. Paulus betrachtet seine Ehelosigkeit als Charisma, ein Charisma unter sehr vielen verschiedenen, die alle von dem einen Geist ausgehen (vgl. 1 Kor 7). Ehelos zu leben ist auch eine Möglichkeit der Nachfolge, es besteht kein Zwang zur Partnerschaft. In gleicher Weise kann die Ehe als Charisma gesehen werden, wie die Ehelosigkeit soll sie bewusst als Weg der Nachfolge gewählt werden.
Armut:
Alle Menschen sind zur Vollkommenheit berufen, die Wege dorthin sind jedoch sehr unterschiedlich. Die Berufung zur selbst gewählten, freiwilligen Armut ist eine weitere spezielle Form der Berufung, wobei wieder zu prüfen ist, ob es die eigene ist. Auch Armut umfasst ein weites Feld an Anwendungsmöglichkeiten, es ist nicht automatisch mit „nichts besitzen“ gleichzusetzen. Schon der „Verzicht“ auf Wertvolles, Besonderes oder Bedeutendes kann eine Form der Armut sein und die Sicht weiten, daher redet die Kirche mit bei der „Verteilung der Armut“, um selbst vollkommen zu werden, auch aus ihrer eigenen Unvollkommenheit heraus.
Gehorsam:
Die Anwendung des Grundgedankens des Evangeliums auf den Umgang mit der eigenen Freiheit, mit Macht, ist geschwisterliches Dienen, „Letzte/r-von-allen-sein“. Eine richtig verstandene Demut meint keine Selbsterniedrigung, kein Geringschätzen der eigenen Fähigkeiten. Es geht darum, sich der eigenen Grenzen und Endlichkeit bewusst zu sein, sich klar als Mensch dem Schöpfer untergeordnet zu wissen, die „angebrachte Relation“ zu anderen Menschen und zu Gott zu haben. Es gibt verschiedene Stufen der Demut, der freiwillig gelobte Gehorsam ist eine besondere.
„Knechten gibt man Gebote, Freunden aber Räte“
Allgemein sollen Regeln helfen, das Leben zu ordnen und auch zu schützen. Sogenannte „Erfahrungswerte“ zeigen, was sich schon öfters als hilfreich oder schädlich herausgestellt. Wenn z.B. Eltern Kindern Regeln aufstellen, dann sollten diese einen klaren Grund und Zweck haben.
Die evangelischen Räte sind keine „Zusatzaufgaben“ für besonders eifrige Christ/innen, sie sind von der Freiheit und Gnade her zu verstehen: Mit ihnen soll Leben gelingen, Zukunft für Schöpfung und Mensch möglich sein. Es gibt eine freiwillige Entscheidung, sich in manchen Bereichen asketisch zu beschränken. Ordensmänner und –frauen, Priester, weibliche und männliche Laien legen Gelübde ab, die sich genau auf diese Lebensbereiche beziehen. Diese Gelübde binden den Menschen und sind ein Festhalten der Zusage Gottes, dass er den Menschen auf dem von ihm gewählten Weg führt, sie sind ein Geschenk der machtvoll wirkenden, grenzenlosen Liebe Gottes. Dabei gibt es keinen besseren Weg und keinen schlechteren, wenn es der je eigene ist. Jede/r schuldet Gott die Antwort auf seine Liebe gemäß den ihm/ihr gegebenen Talenten. Die Räte sind also Grundhaltungen, die das Leben des Menschen in guter Balance halten können, wie ein freundschaftlicher, guter Tipp (keine gesetzliche Bürde, kein Gebot, das die Freiheit einschränkt). Berufen sein hat mit Gnade zu tun, nicht mit Furcht vor Strafe. Es gilt diese Liebeseinladung anzunehmen und das Leben entsprechend zu gestalten.
Werde, der/die du bist!
Die Selbstwerdung ist ein lebenslanger Prozess. Das Erkennen, was mir wichtig ist, wer ich eigentlich bin und wer ich sein möchte hat viel mit Reflexion und Hören zu tun, nicht zuletzt Hören auf die leise Stimme Gottes. Auf diesem Weg der Selbstwerdung muss sich jeder Mensch auch fragen, wie er/sie mit den großen Themen Besitz, Körperlichkeit/Sexualität und der eigenen Freiheit umgeht. Die evangelischen Räte bilden ein Gegengewicht zu selbstzerstörerischer Maßlosigkeit und sind als Weisung für alle Christ/innen gemeint. Sie wollen nicht einschränken, sondern zukunftsträchtig in eine Richtung weisen. Sie stellen eine radikale Überwindung der starken Mächte, der unkontrollierbaren Begierden dar und führen zu einem vollkommenen frei sein für die göttliche Liebe, das Reich Gottes.
„Entscheidend ist, dass der Christ alles im Licht des Kommens Jesu Christi und seines Reiches betrachtet, seine besondere Berufung aber im Vertrauen auf den ihn Rufenden dankbar wagt.“ (Häring)
Das ganze Leben
Woher nimmt sich die Kirche das Recht, das Leben der Menschen prägen zu wollen? Die Kirche ist dazu da, den Auftrag Jesu lebendig zu erhalten. Jesus hat nicht Menschen „teilweise“ in die Nachfolge berufen, er forderte die völlige Aufgabe von allem bisher gewohnten (Verlassen des Arbeitsplatzes, des gewohnten Raumes, der Familie, ...). Es geht darum, das ganze Leben, alle Bereiche, die es ausmacht zu durchleuchten und neu auszurichten. Die Kirche kann und soll keine Institution sein, die nette Angebote zur Freizeitgestaltung bietet („Christ/in sein ist kein Hobby“). Da Jesus den ganzen, vielfältigen Menschen ruft, muss sich die Kirche ebenfalls an den ganzen Menschen wenden. Dass nicht nur angenehme, leicht umzusetzende Anforderungen gestellt werden (oft als Tabus wahrgenommen) entspricht ganz der Radikalität Jesu: Er forderte eine klare Entscheidung für oder gegen sich und den Glauben. Diese Entscheidung ist nur erst zu nehmen, wenn ihr auch Taten folgen, also wenn der Glaube sich in den Handlungen des alltäglichen Lebens zeigt.
Sabine Kräutelhofer und Gerhard Labschütz