Gerecht

Gibt es die Gerechtigkeit im pädagogischen Alltag? Und was ist das?

Es ist möglich, eine Torte in gleich große Stücke zu schneiden (aber vielleicht mag jemand nur ein kleineres Stück), jedem Kind einer Gruppe den gleichen grünen Lutscher zu schenken (möglicherweise will ein Kind nur die roten), alle Spielwünsche abwechselnd zu berücksichtigen (und dann geht es sich womöglich mit der Zeit nicht aus), alle Kinder gleich zu behandeln - aber halt, spätestens hier wird es endgültig schwierig mit der Gerechtigkeit, obwohl gerade die "Gleichbehandlung" etwas ist, das sich engagierte Pädagog/innen gerne auf die Fahnen heften. Kinder sind so verschieden, dass es eigentlich unsinnig ist, sie gleich behandeln zu wollen - die lauten und die zurückhaltenden, die quirligen und die langsamen, die charmanten und die kratzbürstigen. Sie haben wohl ähnliche Grundbedürfnisse, z.B. in ihrer jeweiligen Eigenart angenommen und gemocht zu werden. Das ist schwierig genug. Mit dem hehren Anspruch der Gerechtigkeit im pädagogischen Tun versuche ich es daher über drei Annäherungen:

Kind-gerecht

Das Bemühen darum, völlig unterschiedlichen kindlichen Bedürfnissen gerecht zu werden, ist eine pädagogische Grundhaltung, die in meinem konkreten Tun, Reden und Planen Niederschlag findet. Ich nehme Kinder ernst, und daher ist es nur fair zu versuchen, kindliche Denk- und Verhaltensweisen zu verstehen und nach Möglichkeit darauf einzugehen - Kindern wird das Verständnis für die Welt der Erwachsenen auch ständig abverlangt.

Und trotz größter Bemühungen werde ich den Satz: "Na geh, das ist unfair!" immer wieder von Kindern hören. Oft als Äußerung von Unwillen gegenüber erwachsenen Grenzsetzungen - und besonders dann, wenn sie spüren, dass der Vorwurf, eine Handlung sei "unfair", am pädagogischen Gewissen des Erwachsenen kratzen könnte (also quasi ein "Test", ob Ungleichheiten oder Entscheidungen, die "unbequem" sind, auch vom Erwachsenen standhaft vertreten werden können). "Unfair" ist dann etwa: Ich habe etwas "vielleicht" für heute in Aussicht gestellt und dann muss ich es auf morgen verschieben, die jüngeren Kinder müssen vor den älteren ins Bett, ich finde, dass ein Eis am Tag reicht, etc. - die Liste ist beliebig fortführbar. Diese "Ungerechtigkeiten" des Alltags gilt es dann auf beiden Seiten eben auszuhalten.

Situations-gerecht

Natürlich kann ich mich nicht immer allein an den Bedürfnissen der Kinder orientieren, ich bin ja mit meinen eigenen auch mittendrin im Geschehen. Und dass kindliche und erwachsene Wünsche und Bedürfnisse nicht zu jeder Zeit und in jeder Situation zusammenpassen, ist leider Tatsache. Beim Thema "Ordnung" beispielsweise fallen diese verschiedenen Wünsche oft unangenehm auf und führen zu Auseinandersetzungen. Situationsgerecht könnte etwa sein, ein Kind nicht gerade dann zum sofortigen Aufräumen aufzufordern, wenn es ins Spiel vertieft ist, sondern sich einen geeigneten Zeitpunkt dafür auszumachen.

Und wenn Max Hannes in der Kindergruppe in den Bauch haut und ich nach der Trennung der raufenden Buben Max einen Vortrag über meinen Standpunkt zu Gewaltanwendung halte, trägt das aller Wahrscheinlichkeit nach nicht dazu bei, dass er sich gerecht behandelt fühlt. Gut möglich, dass er einen Grund hatte, wütend auf Hannes zu sein - und vor der Darlegung meiner Meinung zum Thema Hauen werde ich diesen wohl ergründen müssen. Die Feststellung, wer in kindlichen Streitfällen nun "angefangen" hat, ist oft genug nicht möglich. Selten geht es ausschließlich um die Situation, die ich als Erwachsene/r gerade miterlebe, sondern auch um z.T. mir gar nicht wirklich nachvollziehbare Kränkungen, Angriffe etc., die zu einem anderen Zeitpunkt, etwa in der Schule, stattgefunden haben. Ein "gerechtes" Urteil darüber fällen zu wollen, wer nun "Schuld" an einem Streit hat, ist meiner Erfahrung nach oft wenig zielführend, weil damit auch nichts gelöst ist. Gerechtes Handeln könnte in einer solchen Situation heißen, unparteiisch zu bleiben und die Kinder dabei zu unterstützen, zu einer annehmbaren Lösung für ihren Konflikt zu finden.
Beharren auf starren Prinzipien, egal in welcher Situation, wird von Kindern meist zu Recht als ungerecht empfunden.

…und nicht selbst-gerecht

Der Glaube an eine mögliche Gerechtigkeit an sich im pädagogischen Handeln und in der Beziehung zu Kindern geht nach meinem Dafürhalten mit Selbstgerechtigkeit einher. Und die lässt keinen Selbstzweifel zu - der aber ist wichtig für eine gelingende Beziehung zu den Kindern, dafür, meine Standpunkte kritisch zu hinterfragen, sie dann aber auch kindgerecht zu vertreten und situationsgerecht verändern zu können. Es geht auch darum, "echt" zu bleiben, mir selbst und den Kindern einzugestehen, wenn ich grantig bin, Fehler mache, mir etwas Leid tut, ich unfair bin oder war. Es ist genug der Gerechtigkeit, diesen Herausforderungen einigermaßen gerecht zu werden.

Karin Magrutsch