Peru

Eindrücke von Lerneinsatz 2014

Im August dieses Jahres hatte ich die Möglichkeit am Lerneinsatz der DKA nach Peru teilzunehmen. Als passionierter Reisender und Student der internationalen Entwicklung bedeuten die Begegnung und der Austausch zwischen Menschen und deren Lebensrealitäten für mich ein zentrales Lernmoment. Vom Lerneinsatz erhoffte ich mir Zugänge zu Kontexten, die mir als gewöhnlichem „weißem“ Individualreisenden verschlossen bleiben würden. 4 Wochen lang reisten wir als Gruppe von 7 Personen durch das Land, hörten Vorträge, besuchten Familien, DKA-Projekte, aber auch touristische Sehenswürdigkeiten, um unterschiedliche Aspekte Perus kennenzulernen.

Ein besonders eindrucksvolles Moment dieses „Weltenlernens“ stellte für mich der Besuch einer Kleinfamilie in den „pueblos jovenes“ im Norden Limas dar, die ich drei Tage lang durch ihren Alltag begleiten durfte.

Als „pueblos jovenes“ („junge Dörfer“) werden in Peru jene urbanen Armenviertel bezeichnet, die Mitte des vergangenen Jahrhunderts entstanden, als breite Teile der ländlichen Bevölkerung begannen, sich an den Rändern der Städte niederzulassen. Die Menschen zogen in die Stadt wegen der wirtschaftlichen Not, dem Mangel an Bildungsmöglichkeiten und dem brutalen Bürgerkrieg, der in den 1980ern und 90ern vor allem für die ärmere, häufig indigene Landbevölkerung eine  große Gefahr bedeutete. Wie zuvor am Land wurden diese Menschen nun auch in der Stadt von den öffentlichen Behörden lange Zeit vergessen. In großer Unsicherheit begannen sie so, selbst ihre Häuser in die steilen Berghänge zu bauen, Wege, Wasser- und Stromversorgung zu errichten und das städtische Zusammenleben zu organisieren. Heute gewinnt „der Staat“ hier langsam an Präsenz. Im chaotischen Stadtbild tauchen immer wieder vereinzelte Boten von „Fortschritt“ und „Entwicklung“ auf: eine asphaltierte Straße, eine befestigte Stiege, an denen Schilder unübersehbar auf ihre großzügigen Spender hinweisen.

Von außen betrachtet erscheinen diese Viertel als improvisierte, undurchdringliche Häusermeere, grau in grau. Die „Innenperspektive“ lässt  ein deutlich verändertes Bild entstehen: der Alltag im Viertel wird konkret. Es ist keine trostlose „Wüste der Armut“, die mir hier begegnet, sondern eine höchst lebendige und vielfältige „Stadt in der Stadt“ mit unterschiedlichsten Bewohner/innen und einer bunten Landschaft aus Märkten, kleinen Läden und Straßenverkäufer/innen sowie eigenen Transportsystemen.
Diese Infrastruktur entstand aus Eigeninitiativen der hiesigen Bevölkerung, die der Mangel an regulären Arbeitsplätzen dazu zwingt, sich andere Einkommensmöglichkeiten zu schaffen. Dadurch konnten zahlreiche Familien der Armut entkommen, manchen gelang sogar der Aufstieg zu wohlhabenden Unternehmer/innen, doch ermöglicht diese informelle Selbstständigkeit bei weitem nicht allen Menschen eine gesicherte Existenz. So verschärfen sich auch im vermeintlich „armen“ Viertel die gesellschaftlichen Teilungen und Widersprüche: unterhalb der  unbefestigten Hütten an den steilen Berghängen finden sich gläserne Privatschulen. Daneben gibt es abgezäunte Straßen mit schmucken Vorgärten und blitzblank polierten Autos, in denen sich die lokalen Mittel- und Oberschichten ihr kleines Paradies aus herausgeputzten Häuschen mit gefliesten Wohnzimmern, riesigen Flachbildschirmen und importiertem Alkohol geschaffen haben. Auf einem weitläufigen Areal unbebauten Landes, das sich neben einer dieser Mittelstandssiedlungen erstreckt, wirbt ein Wahlplakat für mehr Grünflächen im Viertel. Aufgrund des massiven Mangels an leistbarem Wohnraum in der Stadt gibt es unzählige junge Familien die sich hier niederlassen möchten. Doch die ansässige Bevölkerung, die ihr Viertel lieber mit einem neuen Park geschmückt sähe, wehrt sich vehement gegen die Neuankömmlinge.

Zugleich stoße ich während meines Aufenthaltes aber auch auf ein beeindruckendes Ausmaß an Selbstorganisation und sozialem Engagement: Vom Ladenbesitzer, der die Vergabe offizieller Eigentumstitel für die ohne jede rechtliche Absicherung erbauten Häuser koordiniert bis zum pfarrlichen Arbeitskreis, der anlässlich der bevorstehenden Wahlen die Bevölkerung über die Positionen und Programme der Kanditat/innen informiert, um deren politische Arbeit besser überwachen und einstige Wahlversprechen einfordern zu können. Dabei sind es vor allem der Glaube und die Ideen der Befreiungstheologie, welche für viele Menschen den wesentlichen Antrieb darstellen, aktiv für eine gerechtere Gesellschaft zu arbeiten.

Als ich schließlich in unsere Unterkunft zurückkehre, hinterlassen die sozialen Gegensätze und Widersprüche unzählige offene Fragen über Armut, gesellschaftliche Organisation und Veränderung, individuellen Aufstieg und Solidarität, die mich noch lange beschäftigen werden. Zugleich bin ich berührt und beeindruckt: Von der Offenheit und Herzlichkeit mit der mich meine Gastfamilie empfing und von der Eigeninitiative, dem Einsatz und Zusammenhalt mit dem die Bewohner/innen das Viertel aufgebaut haben und an den täglichen Herausforderungen des Lebens arbeiten.

Jonathan Scalet

kumquat "Sprache" 4/2014