Ein Interview mit dem Psychologen Bernhard Binder.
Jungschar: Darf/soll man Kindern aus psychologischer Sicht überhaupt absichtlich Angst machen?
Bernhard Binder: Bestimmte Ängste sind im Entwicklungsverlauf eines Kindes vorgesehen, z. B. die mit ca. 8 Monaten auftretende Fremdenangst – ein Schutzmechanismus, der verhindert, dass sich das Kleinkind unkritisch möglicherweise feindlich gesinnten Personen zuwendet. Auch spätere Ängste, wie die Trennungsangst oder jene Ängste die mit etwa vier Jahren im Rahmen der gesteigerten Fantasieentwicklung auftreten werden als „Durchgangsstadien“ bezeichnet, d. h. sie tragen zu einer Reifung und Entwicklung bei und erfüllen eine bestimmte Aufgabe, wie eben z. B. Schutz- oder Loslösungsfunktionen.
Beim absichtlichen, vorsätzlichen Angstmachen kann ich keine Entwicklungsfunktion erkennen. Es tritt eher der gegenteilige Effekt ein: Eine Hemmung der Entwicklung.
JS: Oft ist es ein Argument, dass wenn man Geisteraktionen mit Kindern macht, ja eh nachher alle sagen, dass es toll war. Wieso soll man dann solche Aktionen aufgeben, die anscheinend alle lustig finden?
BB: Wenn ein Kind (auch Erwachsene/r) Angst hat, fühlt es sich mit Sicherheit schwach, wenig selbstbewusst, sucht Schutz, Geborgenheit und möchte irgendetwas tun, um sich besser zu fühlen. Eine Möglichkeit ist diese Angst zu verdrängen, indem ich mir einrede, das Passierte sei gar nicht so schlimm gewesen oder noch schlimmer, man verdrängt das Geschehene, was auch immer wieder bei Personen mit traumatischen Erfahrungen (bei Unfällen, Flucht, Krieg…) vorkommt. So haben diese Menschen überhaupt erst eine Möglichkeit weiterzuleben und nicht ständig von Angst begleitet zu sein.
Auch Kinder, die sich während einer Geisteraktion fürchten, verdrängen nachher ihr Erlebtes und suchen „Schutz“ im allgemeinen „Gejohle und Gejauchze“, das den Gesetzen des Gruppendrucks gehorcht. Es würde eine unwahrscheinlich große Energie erfordern zu sagen, dass man Angst hatte. Doch das lässt weder Körper noch Hirn in dieser Situation zu – auch aus Angst vor weiteren Verspottungen und Demütigungen.
JS: Kann man erkennen, ob Kinder Angst gehabt haben bzw. ob es ihnen bei solchen Aktionen schlecht gegangen ist.
BB: Bei Angst werden ganze bestimmte Zentren im Gehirn aktiviert, welche dann Informationen an die „Peripherie“ schicken. Es entstehen motorische, vegetative und endokrine (die Hormone betreffend) Reaktionen. Angst ist u. a durch den Gesichtsausdruck, Muskelanspannung bis hin zum Zittern, erhöhten Herzschlag, „flaues“ Gefühl im Magen erkennbar. Abgesehen davon werden Kinder, welche Angst erfahren haben, Schutz suchen, bei vertrauenswürdigen Menschen, im Licht, bei Wärme. Einige wollen über die Erlebnisse sprechen, anderen ist das aber nicht möglich…
JS: Kann man lernen mit der Angst umzugehen und können Geisteraktionen dabei helfen?
BB: Mit Ängsten umzugehen kann durchaus gelernt werden, das wird in psychologischen Behandlungen angewandt, wenn Menschen z. B. Flugangst oder bestimmte Phobien haben. Dabei erfolgt aber immer zuerst eine Stabilisierung der Person und danach eine Konfrontation im Beisein einer ausgebildeten Fachperson. Geisteraktionen halte ich für keine sinnvolle „Konfrontationsmöglichkeit“. Erstens ist nie bekannt, wie das „individuelle Angstniveau“ des Kindes aussieht und welche Vorerfahrungen ein Kind mit sich bringt. Angst ist etwas sehr Individuelles und Intimes. Hier von sich auf andere zu schließen kann großen Schaden anrichten. Daher kann ich zweitens nie planen, wie hoch der „Gruselfaktor“ ist.
JS: Wenn das so schlecht für Kinder ist, wieso machen es dann doch so viele Menschen immer wieder Kindern Angst?
BB: Dafür wird es wohl mehrere Gründe geben. Neben Unwissenheit kommt auch hinzu, dass eigene Erlebnisse von früher verdrängt oder falsch dargestellt werden. Oft ist einem gar nicht bewusst, warum gewisse Orte gemieden werden oder man über manche Dinge weniger gerne spricht. Emotionen werden in unserem Gehirn tiefer abgespeichert als Kognitionen, sind also von diesen überlagert und dadurch sind die wahren Emotionen oft verschüttet.
JS: Viele Kinder wünschen sich Geisteraktionen wieder, weil sie es im letzten Jahr so toll erlebt haben. Soll man trotzdem auf solche Aktionen verzichten?
BB: Na das Erleben ist eben eine „bereinigte, sozial angepasste“ Erinnerung. Wenn sich „traditionell“ etwas eingeschlichen hat, fände ich es sehr gut, Alternativen anzubieten oder „entängstigende“ Adaptierungen vorzunehmen.
JS: Ist das Vorlesen von Geistergeschichten auch schlecht? Da bekommt man doch maximal schlechte Träume?
BB: Komm drauf an, welche Geistergeschichten und in welchem Rahmen sie vorgelesen werden. Ich kenne lustige Geistergeschichten, welche die Kinder bei Keksen und Tee echt witzig fanden. Dabei sollte gelten: Je realitätsferner die Geschichten sind, desto besser für die kindlichen Gehirne und deren Traumverarbeitung. Auch sollte dies nie der letzte Punkt vor dem Schlafengehen sein. Also als „Gute-Nacht-Geschichte“ bitte keine Gruselgeschichten!
JS: Kennst du Beispiele wo das absichtliche Angst machen Kindern später als Erwachsene geschadet hat?
BB: Absichtliches Angstmachen kann neben Gefühlsverleugnung, Alpträumen, Einnässen, Konzentrations- und Wahrnehmungsstörungen auch zu posttraumatischen Belastungsstörungen führen. Wenn sich jemand bei Dämmerung nicht mehr durch ein romantisches Waldstück gehen traut, weil da wer hinter einem Baum herausspringen könnte, hat das nichts mit fehlendem Mut zu tun, sondern damit, dass diese Person in ihrer Kindheit leider eine sehr negative Erfahrung gemacht hat.
JS: Oft wird Angst mit Macht(missbrauch) in Verbindung gebracht. Ist das immer so, wenn man anderen Menschen absichtlich Angst macht, dass man sie beherrschen bzw. unterdrücken will?
BB: Wenn eine/r Angst hat, der/die andere nicht entsteht auf jeden Fall ein Ungleichgewicht, dazu muss die Angst nicht mal absichtlich herbeigeführt worden sein. Für jemanden mit Höhenangst wird eine Bergwanderung mit Kletterpfad in keinem Fall ein Vergnügen sein. Also stellt sich ganz berechtigt die Frage, warum will man einen anderen Menschen überhaupt in eine beängstigende Situation bringen? Zur eigenen Belustigung, um Schadenfreude auszuleben, sich überlegender zu fühlen?
JS: Oft sagt man "Ist ja nur ein Spiel"
BB: In der psychologischen Behandlung spielen wir sehr viel mit Kindern, sie lernen dadurch Erfahrungen in den Alltag zu transferieren, auch wenn sie mich dann mal fragen „jetzt in echt, oder im Spiel?“. Aber das „nur“ fehlt auf jeden Fall immer, denn durch das Spiel lernen sie ganz wichtige Dinge. Absichtliches Angst machen ist niemals „nur“ ein Spiel und schon gar nicht für die Gehirne der Kinder, das speichert sich ein und kann ungünstige Folgen haben.
JS: Eine Strategie um Kinder die Angst bei Geisteraktionen zu haben ist es, ein Alternativprogramm anzubieten. Ist das sinnvoll?
BB: Ein Alternativprogramm anstelle der Geisteraktion auf jeden Fall. Ein Alternativprogramm neben der Geisteraktion nicht, da teilt man erst recht wieder ein in die „Mutigen“ und in die „Angsthasen“ und zwingt die Kinder, ihre Gefühle zu verleugnen.
JS: Wird es besser, wenn man mit Kindern nachher darüber redet, ob sie Angst gehabt haben?
BB: Ich glaube, wie schon oben erwähnt, dass Kinder danach nicht sagen können, was sie dabei wirklich gefühlt haben. Und außerdem ist Angst eben sehr individuell – der eine spricht, die andere schweigt.
JS: Eigentlich wollen viele Gruppenleiter/innen, die Geisteraktionen anbieten, Kindern ja nur etwas Cooles und Spannendes anbieten. Ist das falsch? Ohne spannende Dinge wird ja das Lager schnell fad, sagen viele.
BB: Kinder sind so wissbegierig und möchten sehr gerne Erfahrungen machen. Es ist durchaus nicht falsch, etwas Spannendes und auch Cooles anzubieten, doch das muss nicht automatisch mit Angst, Frucht und Schrecken in Verbindung stehen. Nacht, Dunkelheit, Sterne, eingeschränkte Sinne, unbekannte Geräusche, Forschen und Entdecken, das alles bietet alleine schon viele Möglichkeiten an Spannendem.
MMag. Bernhard Binder ist Klinischer- und Gesundheitspsychologe sowie Kinder-, Jugendlichen und Familienpsychologe
[aus dem kumquat "Angst" 2012]