Von Lemmingen und Adlern
Gehorsam als Ziel der Erziehung?
Wer mit Kindern zu tun hat, dem fallen wahrscheinlich zahlreiche Situationen ein, in denen man sich nichts sehnlicher wünscht, als dass die Kinder endlich gehorchen und tun, was man will. Wahrscheinlich fallen dir aber auch viele Situationen ein, in denen Kinder gemacht haben, worum du sie gebeten hast und auf dich gehört haben.
Allerdings fällt es uns weniger auf, wenn Kinder das tun, was man sich wünscht. Und es fällt uns als Gruppenleiter/innen vielleicht auch leichter zu erwarten, dass Kinder folgen, statt sich von vornherein auf eine Auseinandersetzung mit ihnen einzustellen.
Früher und heute
Bis vor wenigen Jahrzehnten war das Gehorchen-Lernen eines der „wichtigsten“ Merkmale einer guten Erziehung. Wer Kinder dazu brachte, dass sie gehorsam sind, der/die hatte es „richtig“ gemacht. Zu gehorchen ohne nachzudenken kann aber auch gravierende Nachteile haben: Es kann dazu führen, dass man nicht darüber nachdenkt, was das eigene Handeln für Konsequenzen hat, oder dass man keine eigene Meinung zu Fragen entwickelt, sondern Menschen blindlings folgt. Und wir wollen doch keinen Haufen Lemminge in der Gruppe haben.
Nachdem es sich zunehmend durchsetzt, dass Kinder Rechte haben, dass sie ernst zu nehmen sind und ein Recht auf ihre eigene Meinung haben, ist es auch mit dem bedingungslosen Gehorchen als Ziel der Erziehung schwierig geworden. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn ein Kind beim Essen etwas vorgesetzt bekommt, das es nicht mag, kann es zwar dazu gezwungen werden, es dennoch zu essen – damit wird das Kind aber weder ernst genommen, noch werden seine Wahrnehmung („Das schmeckt mir nicht.“) und seine Wünsche respektiert.
Wenn Kinder aber die Erfahrung machen, dass es nicht gleichgültig ist, was sie denken, und ihre Gedanken und Handlungen für sie erkennbare Auswirkungen haben, dann werden sie auch Verantwortung für ihr eigenes Tun übernehmen können. Sie werden stark und selbstbewusst, können sich eine eigene Meinung bilden und sie vertreten – sie entfalten als Adler ihre Schwingen.
Warum ist das in der Praxis oft schwierig umzusetzen?
Wenn man Kinder ernst nimmt, verbirgt sich dahinter oft die Hoffnung, dass damit alle Konflikte und Streitigkeiten überflüssig werden – aber die gehören dazu. Genauso wie wir werden Kinder versuchen, ihre Interessen durchzusetzen. Aber gerade mit Forderungen von Kindern gut umzugehen, ist etwas, was die wenigsten als Kinder selbst erlebt haben, und deshalb müssen wir es üben. Eine „Schwierigkeit“ liegt darin, auch ein „nein“ so zu begründen, dass die Kinder sich ernst genommen fühlen und ihre Wünsche gesehen werden.
Ein Beispiel: Zwei Kinder beschweren sich nach der Gruppenstunde, dass du die anderen Kinder bevorzugst. Vielleicht sagst du etwas in der Art: „Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich behandle alle Kinder gleich. Ich bin ja nicht für euch alleine da, sondern muss auf alle schauen.“ Hier bekommen die Kinder die Botschaft, dass mit ihnen etwas nicht stimmt, dass ihr Eindruck falsch ist und du darüber entscheidest, was richtig und falsch ist. Ganz anders ist es, wenn du z.B. sagst: „Das ist mir bis jetzt nicht aufgefallen. Ich dachte, ich behandle alle gleich. Könnt ihr mir ein Beispiel sagen?“ Nun können die Kinder ihren Eindruck konkretisieren. Wenn du die Einschätzung der Kinder nicht teilen kannst, kann am Ende des Gesprächs auch herauskommen, dass du dein Verhalten nicht ändern wirst, aber du hast die Kinder ernst genommen.
Gehorchen, wenn es wichtig ist
Es gibt Situationen, in denen es ganz wichtig ist, dass die Kinder auf dich hören und tun, was du sagst, z.B. wenn Kinder dabei sind, einander weh zu tun oder wenn Kinder in Gefahr sind, sich wehzutun, wenn es darum geht, bei der richtigen Haltestelle auszusteigen oder um anderem Schaden vorzubeugen.
Dann ist es notwendig, als Leiter/in Verantwortung zu übernehmen, klar zu sagen, was die Kinder tun oder lassen sollen, und das möglichst auch zu begründen. Es ist wichtig abzuwägen, wo es tatsächlich sein muss und wo es eher eigene Bequemlichkeit o.Ä. ist und Kinder eigentlich auch gut selbst entscheiden können.
Hilfreich ist es, wenn du dich in Situationen, in denen du den Kindern Grenzen setzen musst, auf Regeln berufen kannst, die ihr gemeinsam festgelegt habt. Überlegt euch doch gemeinsam, wie ihr miteinander umgehen wollt und macht es euch aus. Bei manchen Themen, wie „Wir tun einander nicht weh!“ oder „Nach der Gruppenstunde räumen wir unseren Dreck gemeinsam weg.“ werdet ihr euch vielleicht schnell einig sein - bei anderen Dingen gehen die Meinungen der Kinder vielleicht in eine andere Richtung, als deine eigene. Z.B. halten es die Kinder vielleicht für völlig unbedenklich, in eurem Gruppenraum mit einem Plastikball Beschützerball zu spielen. - Du denkst dabei vielleicht sofort an zerbrochene Fensterscheiben, abgeräumte Regale, usw. Jetzt könntest du einerseits bloß sagen: „Nein, im Gruppenraum wird nicht Ball gespielt.“ - oder du begründest deine Bedenken, warum Ball spielen im Gruppenraum mit einem harten Ball nicht so fein ist und suchst gemeinsam mit den Kindern nach Alternativen (sei‘s jetzt Ball spielen im Freien, oder im Gruppenraum mit einem Softball).
Manchmal kann es für die Kinder auch schmerzhaft sein, Grenzen gesetzt zu bekommen. - Als Gruppenleiter/in hast du die Verantwortung für deine Kinder und musst es manchmal auch aushalten, wenn die Kinder böse auf dich sind. Wichtig ist, dass du den Kindern dein Handeln begründest.
Wenn es zu Konflikten kommt, dann liegt es oft auch daran, dass eines der Grundbedürfnisse der Kinder nicht erfüllt ist, z.B. werden manche Kinder „bockig“, wenn sie sich nicht auskennen, mit einer neuen Situation schlecht umgehen können oder Hunger oder Durst haben. Oft ist das den Kindern in der Situation gar nicht bewusst, ein gezieltes Nachfragen kann hier auf die richtige Spur führen.
Wenn die Kinder die Erfahrung machen können, dass du sie überall dort einbeziehst, wo das sinnvoll möglich ist, und die Meinungen der Kinder ernst nimmst, dann werden sie, wenn sie merken, dass es wirklich wichtig ist, auch leichter auf dich hören – auch wenn sie lieber etwas anderes tun würden.
Sandra Fiedler
kumquat "Ungehorsam" 1/2012