Macht im Alten Testament

Es ist ein mächtiger Gott, von dem im Alten Testament die Rede ist. Er führt Israel mit starker Hand aus Ägypten hinaus in die Freiheit, er stürzt Götzen und zerstört heidnische Kultstätten, er bestraft Israel, weil es ungehorsam ist und ihn nicht als einzigen Gott verehrt. Keine Frage: Das Alte Testament ist ein Buch über Macht. Nun mag es ja angehen, dass Gott selbst Macht zugesprochen wird und er diese in der geschichtlichen Erfahrung der Menschen auch ausübt. Doch wie steht das Alte Testament zu der Frage, wie die Menschen mit Macht umgehen sollen? Wie sieht es Könige, einheimische oder fremde?

Eine Gesellschaft ohne Chefs

Nach der erfolgreichen Landnahme unter Josua (angeblich ca. 1220 v.Chr.) errichtet das Volk Israel nicht wie andere Völker der Nachbarschaft ein Königreich. Das Buch der Richter im Alten Testament erzählt von dieser Periode, in der das Alte Israel eine Gesellschaft ohne Chefs war. Ganz stimmt das natürlich nicht, denn immer, wenn Gefahr drohte, wurde ein vertrauenswürdiger Mann zum Chef gemacht, eben zum „Richter“. Damit war nicht gemeint, dass er über Rechtstreitigkeiten richten, sondern dass er als Anführer in kriegerischen Auseinandersetzungen vorangehen sollte. Nach Ende des Krieges trat ein solcher Richter wieder zurück und wurde wie die anderen.

In der „Richterzeit“ war Israel eine Gesellschaft ohne kontinuierliche einheitliche Herrschaft. Solche gesellschaftlichen Organisationsmodelle wurden auch später in der Geschichte beobachtet. Vor allem aus der Ethnologie wissen wir von zahlreichen Völkern, die keine zentrale Führung kennen. Solche Gesellschaften haben meist ein gut funktionierendes System der internen Machtbalance entwickelt. Anarchisch, also ganz herrschaftsfrei, ist so ein System aber auch nicht. Das Alte Israel der Richterzeit war eine patriarchale Zeit, in der Männer gesellschaftlich über Frauen und Ältere über Jüngeren standen.

Die Fabel vom allerschlechtesten König

Bereits in der Richterzeit wurde eine Diskussion darüber geführt, ob es nicht doch besser sei, einen zentralen Chef, einen König zu wählen. Dafür schien zu sprechen, dass ein König rascher eine Armee aufstellen konnte, wenn Gefahr drohte – und das war in dieser Zeit sehr häufig der Fall. Das Alte Israel existierte in einer Pufferzone zwischen zwei Großmächten: den Ägyptern im Westen und den Assyrern bzw. Babyloniern im Osten. Immer wieder wurde Israel von der einen oder der anderen Großmacht überrannt und verbündete sich mit der jeweils anderen – oder versuchte mit anderen Regionalmächten das Zünglein an der Waage zu spielen.

Dennoch gab es starke Widerstände gegen die Idee eines Königtums. Eine der berühmtesten Einwendungen gegen die Monarchie ist die Jotam-Fabel. Dort wird argumentiert, dass es nur der Unfähigste sei, der die höchsten Ämter annehmen würde:

Die Bäume gingen hin, um einen König über sich zu salben, und sprachen zum Ölbaum: Sei unser König! Aber der Ölbaum antwortete ihnen: Soll ich meine Fettigkeit lassen, die Götter und Menschen an mir preisen, und hingehen, über den Bäumen zu schweben? Da sprachen die Bäume zum Feigenbaum: Komm du und sei unser König! Aber der Feigenbaum sprach zu ihnen: Soll ich meine Süßigkeit und meine gute Frucht lassen und hingehen, über den Bäumen zu schweben? Da sprachen die Bäume zum Weinstock: Komm du und sei unser König! Aber der Weinstock sprach zu ihnen: Soll ich meinen Wein lassen, der Götter und Menschen fröhlich macht, und hingehen, über den Bäumen zu schweben? Da sprachen alle Bäume zum Dornbusch: Komm du und sei unser König! Und der Dornbusch sprach zu den Bäumen: Ist‘s wahr, dass ihr mich zum König über euch salben wollt, so kommt und bergt euch in meinem Schatten; wenn nicht, so gehe Feuer vom Dornbusch aus und verzehre die Zedern Libanons. (Ri 9, 8-15)

Das Volk Israel organisiert sich

Offenbar überzeugte das Argument nicht auf Dauer. Im 11. Jahrhundert v.Chr. wurde Israel schließlich doch eine Monarchie. König Saul war der erste einer langen Reihe von jüdischen Königen des Alten Israel. Er sollte sicherstellen, dass Israel nicht gegen die Philister unterlag – eine Macht, die eine Zeit lang die Region politisch beherrschte. Der militärisch glücklose Saul wurde bald von David als König abgelöst, der sehr erfolgreich die Position Israels sicherte. Ihm folgte der nicht minder berühmte König Salomo nach. Aus heutiger Sicht muss man zu dieser Geschichtsepoche anmerken, dass deren Geschichte erst zumindest dreihundert Jahre später verschriftlicht und dabei stark mythisiert wurde. Saul, David und Salomo sind keine historischen Persönlichkeiten.

Nach dem Tod Salomos, so die Saga weiter, zerfiel das Reich in zwei Teile, das Nordreich Israel und das Südreich Juda. Je zwanzig Könige folgten dort aufeinander, ehe das Südreich im Jahr 724 v.Chr. und das Nordreich 586 v.Chr. unterging. Die Geschichte der beiden Königreiche wird in den beiden Büchern der Könige erzählt und in den beiden Büchern der Chronik nochmals dargestellt – die Bibel zeichnet sich ja dadurch aus, dass die wichtigsten Episoden mehrfach erzählt werden: Die Schöpfung und die zehn Gebote finden sich zwei Mal, das Leben Jesu dann gleich vierfach. Man wollte eben keine legitime Variante ausschließen, die wichtige Informationen zur Heilsgeschichte bergen konnte.

Klassenkonflikte im Alten Orient

Was uns in dieser Geschichte aber besonders interessiert, ist die Diskussion um Macht und Herrschaft. Fast alle Könige werden in der Bibel hart kritisiert, nur wenige sind „gerecht“ und bleiben JHWH treu. Am besten schneiden König Hiskia (727-698) und König Josia (639-609) ab, fast alle anderen Könige missbrauchen ihre Macht. Das Judentum, zumindest aus Perspektive der biblischen Erzähler, bleibt macht- und herrschaftskritisch. Kritik am Königtum wird von den Propheten artikuliert. Fast atemberaubend, wenn man es in heutige Sprache übersetzt, wirkt der Protest des Propheten Amos gegen die Oberschicht des Nordreiches:

„Ihr liegt auf Betten aus Elfenbein / und faulenzt auf euren Polstern. Zum Essen holt ihr euch Lämmer aus der Herde / und Mastkälber aus dem Stall. Ihr grölt zum Klang der Harfe, / ihr wollt Lieder erfinden wie David. Ihr trinkt den Wein aus großen Humpen, / ihr salbt euch mit dem feinsten Öl / und sorgt euch nicht über den Untergang Josefs. Darum müssen sie jetzt in die Verbannung, / allen Verbannten voran. / Das Fest der Faulenzer ist nun vorbei.“ (Amos 6,4-7)

Gerade heute, in einer Zeit der Finanz- und Wirtschaftskrise, wirkt die beißende Kritik des Propheten Amos an Spekulationsgeschäften sehr aktuell:

„Hört dieses Wort, die ihr die Schwachen verfolgt / und die Armen im Land unterdrückt. Ihr sagt: Wann ist das Neumondfest vorbei? / Wir wollen Getreide verkaufen. Und wann ist der Sabbat vorbei? / Wir wollen den Kornspeicher öffnen, das Maß kleiner und den Preis größer machen / und die Gewichte fälschen. Wir wollen mit Geld die Hilflosen kaufen, / für ein paar Sandalen die Armen. Sogar den Abfall des Getreides / machen wir zu Geld.“ (Am 8,4-6)

Man kann nicht sagen, dass das Alte Testament Machtfragen unkritisch betrachtete. So konservativ manche Passagen über Werte und Normen auch sind, so sehr ist die Bibel einem Gesellschaftsmodell verpflichtet, in dem nicht einzelne willkürlich über andere herrschen dürfen. Das sogenannte Bundesbuch im Buch Exodus (Ex 20,22-23,33) enthält eine ganze Reihe von Geboten, wie mit Armen und Schwächeren umzugehen ist. Es ist die älteste Sozialgesetzgebung, die uns bekannt ist. Elemente davon sind bis heute gültig, etwa dass Witwen und Waisen eines besonderen Schutzes bedürfen. Andere Gebote, wie der Schutz für Fremde, werden gerade in Österreich weiterhin nicht oder nur zum Teil erfüllt.

Die Frage, wie eine Gesellschaft mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht, Kindern etwa, zeigt, welche ethische Reife sie erlangt hat. Das Alte Testament macht aber auch deutlich, dass es wichtig ist, gegenüber Machthabern wachsam und kritisch zu sein; ein politisches System darf auch heute nicht um seiner selbst willen akzeptiert werden, sondern nur dann, wenn es eine gerechte Gesellschaft ermöglicht.

Gerald Faschingeder

zum Weiterlesen:
Israel Finkelstein, Neil A. Silberman: Keine Posaunen vor Jericho. Die archäologische Wahrheit über die Bibel. dtv: München 2004