Ein Selbstversuch
Eine Woche ohne Handy, das kann doch nicht so schwierig sein! Es ist ja nicht so, dass ich es unbedingt brauche, oder doch?
Es ist Sonntagabend. Ich schreibe allen Leuten, von denen ich glaube, dass sie mich vielleicht nächste Woche anrufen wollen, eine SMS, dass ich nur per E-Mail erreichbar bin. Dann poste ich das auch auf Facebook. Ich bekomme Rückmeldungen von „Viel Glück beim Selbstversuch!“ bis zu „du bist ja crazy!“. Als letztes schreibe ich mir noch alle wichtigen Telefonnummern aus meinem Telefonbuch am Handy in ein Notizbuch. Dann schalte ich mein Telefon ab und lege es schweren Herzens in die erste Schublade meines Schreibtisches. Schlaf gut!
Tag 1
Montagmorgen. Um sieben Uhr verlasse ich das Haus, ohne mein Telefon. Ein seltsames Gefühl von Unsicherheit steigt in mir hoch. Was wäre, wenn jetzt irgendetwas passiert, dann könnte ich nicht mein Telefon zücken und Hilfe holen. Vielleicht landet jetzt gleich ein UFO und nimmt mich mit und ich kann nicht mal die Heute-Zeitung alarmieren. Da geht mir ja die Top-Story des Monats durch die Lappen! Langsam sammle ich mich wieder. Früher gab’s ja auch keine Handys, das hat ja auch geklappt, also warum jetzt nicht? Ich stehe meines Erachtens schon recht lange bei der Straßenbahn-Station. Bim kommt nicht. Möchte auf mein Handy schauen, geht nicht, weil zuhause, tja… Woher bekomme ich jetzt die Uhrzeit?! Frage die Frau die neben mir steht, wie spät es ist. Sie schaut auf ihr Handgelenk, wo sie ein fremdartiges Armband trägt, von dem sie anscheinend die Uhrzeit ablesen kann. Hmm, irgendwoher kenne ich das doch…ja, genau, eine Armbanduhr! Freue mich, weil ich so eine ja auch zu Hause habe, das Uhrzeit-Wissen-Problem ist damit überwunden. Dann passt eigentlich alles wieder.
Am Abend dann will ich mit meinem Bruder auf dem Christkindelmarkt gehen. Wir haben uns aber keinen Treffpunkt ausgemacht. Ich bin auf der Uni und weiß, dass er unterwegs ist und nicht per E-Mail erreichbar. Oh nein, was tun? Zuerst denke ich mir, borgst dir halt schnell von wem anderen das Handy. Nein nein, das wäre ja dann nicht handyfrei, handyfrei heißt ja, so zu tun, als gebe es das Ding gar nicht. Irgendwo im Universitätsgebäude soll es ein Münztelefon geben. Aber WO? Ich begebe mich auf die Suche. Wenn ich ein Münztelefon wäre, wo würde ich dann wohl am liebsten stehen? Vielleicht irgendwo beim Eingang, damit man auch ja an mir vorbei kommt. Richtig. Finde das Münztelefon. Weiß aber nicht genau, was ich jetzt damit tun soll. Werfe mal 30 Cent in das Teil. Und nehme den Hörer ab. Aha, es sagt was. Tippe die Nummer meines Bruders ein. Er geht ran. Er fragt mich von wo ich ihn anrufe, ich sage triumphierend: „Von einem Münztelefon!“ Er fragt, warum ich nicht gleich Rauchzeichen verwende und findet das ziemlich uncool. Außerdem hat er jetzt keine Lust auf Punsch, weil ihm zu kalt ist. Ich korrigiere, er findet das Wetter nicht zu kalt, sondern ranzig, was auch immer das bedeuten mag… Verdammt, jetzt such ich mir extra ein Telefon und dann hat der keine Lust! Tja, kann man halt nix machen.
Gehe zu meiner nächsten Lehrveranstaltung. Wir müssen dort unsere Hausaufgabe vorstellen. Meine wird sehr gelobt und ich würde das jetzt wirklich gerne jemandem mitteilen, geht aber nicht, weil kein Telefon. Den ganzen Heimweg verspüre ich das Gefühl, mich irgendwem mitteilen zu müssen. Endlich zuhause ist keiner da, also muss sich mein Meerschwein meine Geschichte anhören. Ist aber nicht sehr befriedigend, weil es der Meersau relativ egal ist, sie frisst einfach weiter und schaut mich nicht mal an. Rufe eine Freundin vom Festnetz aus an, es ist aber zu spät und nicht dasselbe. Ich will mein Telefon!
Tag 2
Mein zweiter handyloser Tag ist eigentlich ziemlich entspannt, bis um 12:00 Mittags. Ich möchte eine Studienkollegin anrufen, weil wir zusammen eine Präsentation machen. Ich habe nur ihre Handynummer und zwar auf meinem Handy. Hielt ihre Nummer nicht für wichtig und hatte sie nicht herausgeschrieben. Was tun? Ich google sie im Internet. Finde sie auf Facebook. Adde sie als Freundin. Glück gehabt! Hoch lebe das Internet! Da ich meine Armbanduhr gefunden habe und die Batterie wechseln ließ, ist auch die Uhrzeit kein Problem mehr.
Tag 3-6
Die nächsten Tage vergehen recht unspektakulär. Ich lerne recht schnell, von SMS auf E-Mails umzusteigen. Dazu braucht man zwar einen Computer, aber da stehen auf der Uni eh recht viele. Außerdem gibt’s ja das Münztelefon! Und die 50 Minuten Heimweg, in denen ich quasi von der Außenwelt abgeschnitten bin, überbrücke ich mit dem Lesen der Heute-Zeitung. Man glaubt gar nicht, wie viele Leute von UFOs entführt werden!
Tag 7
Nach sieben Tagen ohne Handy und 2 Euro ärmer, ganz schön teuer so ein Münztelefon, schalte ich mein Telefon wieder ein. Endlich, ich habe es so vermisst! Da ich fast allen Leuten Bescheid gegeben hatte, habe ich nicht sehr viele verpasste Anrufe und SMS. Mein Handyanbieter scheint allerdings nicht damit klarzukommen, wenn man das Telefon mehr als zwei Tage nicht benutzt. Verpasste Anrufe werden dann anscheinend gelöscht. Einige Leute haben mich gefragt, warum ich nicht zurückgerufen habe, ich wusste aber nichts von ihrem Anruf.
Selbstversuch geglückt!
Ich stelle hiermit überrascht fest, dass ich kein Handy brauche, um zu überleben! Gut zu wissen… Die ganze Sache hat nur einen Haken: Leider sind sämtliche anderen Menschen und auch ich an die Spontanität, die das Handy ermöglicht, gewöhnt. Niemand schaut so oft seine E-Mails an, dass man sich wirklich spontan treffen könnte. Ich glaube, dass unsere Gesellschaft durch das Handy sehr beschleunigt wurde. Die Menschen sind wesentlich spontaner als früher, es wird sehr kurzfristig geplant. Ich höre oft, dass es nicht notwendig sei, ständig erreichbar zu sein. Dem stimme ich nach dieser Woche nicht mehr zu. Für mich ist es notwendig, erreichbar zu sein und auch jemanden erreichen zu können, weil ich es so gewohnt bin! Ich denke, vor allem als junger Mensch hat man ohne diese ständige Erreichbarkeit einen Nachteil im sozialen Leben. Mag sein, dass es mit guter Organisation und Vorausplanung auch ohne Handy funktioniert, aber ich bin gerne spontan und möchte mein Handy im Alltag nicht missen!
Heidi Lang
kumquat "Ungehorsam" 1/2012