"Ohne Landrefom wird Brasilien zum Pulverfaß"

„Ich bin dagegen, daß die Landlosen jetzt so ohne weiteres Grundstücke bekommen." Der Brasilianer Erico weiß wovon er redet. Der im Pantanal lebende Naturliebhaber kennt nämlich auch die Probleme der allmählich beginnenden Landreform.

Nirgendwo ist eine Agrarreform dringender als in Brasilien. Unter allen lateinamerikanischen Ländern hat Brasilien die ungerechteste Verteilung von Geld und Gütern. Die Hälfte aller Bauern beackern zusammen nur zwei Prozent des Bodens, aber ein Prozent aller Grundeigentümer verfügt über die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche in ganz Brasilien. Im fünftgrößten Land der Erde sind das gigantische Dimensionen. So kommt es durchaus vor, daß eine Familie über eine Fläche verfügt, die etwa so groß ist wie die Schweiz.

"Ohne eine wirkliche Landreform wird Brasilien zum Pulverfaß", warnen vor allem Vertreter der katholischen Kirche. Und nahezu alle Präsidenten Brasiliens beteuerten bisher, sie endlich durchführen zu wollen. Doch die Verbandelung zwischen Großgrundbesitzern und politischer Macht schaffte es noch immer, die Reformen bereits im Ansatz wieder abzuwürgen.

Selbst der jetzige Präsident Cardosio, der als Sozialdemokrat die wirtschaftlichen Verflechtungen kennt, scheitert an den Machtverhältnissen: Seine Regierung verfügt im Kongreß über weniger als 20 Prozent der Sitze. Cardoso ist also seinem konservativen Koalitionspartner PFL ausgeliefert - und das ist die Partei der Großgrundbesitzer.

Trotzdem mußte Cardosios Regierung in den letzten Jahren etwas für die arme landlose Bevölkerung tun. Die Bewegung der Landlosen (MST), die ideologisch gesehen als Mischung aus Urkommunismus und katholischer Soziallehre eingeordnet werden könnte, zwangen ihn zum Handeln. Ihre gewaltsamen Besetzungen von brachliegendem Bauernland bewirkten in Brasilien eine höchst explosive Situation: Seit 1990 sind weit über tausend Menschen in Konflikten um Grund und Boden ums Leben gekommen. Die wenigsten Verbrechen werden aufgeklärt. Wenn die Polizei Nachforschungen anstellt, stößt sie auf eine Mauer des Schweigens. Die Landarbeiter haben Angst vor den Mörderbanden der Großgrundbesitzer, und die Provinzpolitiker stecken unter einer Decke mit den Großgrundbesitzern.

Die jetzige Regierung handelte also: Sie hat bereits doppelt so viele Ländereien enteignet und Landarbeiter angesiedelt als die drei vorangehenden Zivilregierungen zusammen. Das gibt selbst die Landlosen-Bewegung zu. Doch wirklich befriedigend ist die Situation für sie nicht: "Wenn wir so weiter machen, dann werden wir erst im Jahr 3000 alle Landlosen angesiedelt haben", jammern die Landlosen-Vertreter. Zu Recht, denn Präsident Cardoso versteht es, die Interessen der Großgrundbesitzer zu schützen. Der Einfachheit halber zog er es bisher vor, bloß Staatsland und Farmen Pleite gegangener Banken unter die Leute zu bringen.

Dennoch ist die brasilianische Regierung nicht allein an dem Landproblem schuld. Unter die Zahl der wirklich bedürftigen Landlosen hat sich längst eine Gruppe von Spekulanten und Kriminellen gemischt. Viele bewerben sich um Land nur deshalb, weil sie sich Spekulationsgewinne erhoffen. Und da wären wir wieder bei Enrico, der darüber schimpft, daß die Landübergabe völlig chaotisch abläuft. Die Regierung habe keinerlei Grundbücher oder Registrierungen, berichtet er. Somit kann jeder beliebige daherkommen und Land verlangen.
Was den brasilianischen Naturfreund Enrico aber besonders stört, ist, daß viele der etwa vier Millionen Landlosen keine Ahnung von Landwirtschaft haben. Sie waren Viehhirten, Tagelöhner, Plantagenarbeiter - und ihre Vorfahren meist Sklaven. Der Wunsch nach einem Stückchen Land heiligt noch lange nicht die Mittel. Immer wieder passiert es also, daß die unqualifizierten neuen Landbesitzer in Windeseile die Böden zu Wüsten herunterwirtschaften.

Eine funktionierende Agrarreform wäre nicht nur für die Landlosen wichtig: Brasilien könnte sich dadurch ein höheres Angebot an Grundnahrungsmitteln erhoffen. Denn das Land betreibt seit Jahren eine völlig verfehlte Agrarpolitik. Die Statistik vermeldet zwar hohe Hektarerträge und Exportüberschüsse. Doch angepflanzt wird vor allem Soja für Futtermittel, Zuckerrohr für Treibstoff, Orangen für Saft und Kaffee. Diese Produkte füllen zwar die Kassen der Agroindustrie, aber nicht die Mägen der Brasilianer. Die Produktion von Bohnen und Reis geht ständig zurück. Und so muß Brasilien einen Großteil seiner aus Kaffee und Soja erwirtschafteten Devisen wieder für die Einfuhr von Nahrungsmitteln verwenden.

Die Landreform wäre zudem eine wirkungsvolle Maßnahme gegen die steigende Armut in Brasilien. Wer sich selbst Gemüse oder Früchte anbauen kann, muß zumindest nicht hungern.

VON HEIDI RIEPL
Hauptausgabe vom 02.07.1997 - Seite 003 (OÖNachrichten)