Tempo-Elemente

Hier findest du die in dem Buch von Robert Levine "Eine Landkarte der Zeit" angegebenen Faktoren, die unterschiedliche Zeitwahrnehmung und Geschwindigkeiten in Gesellschaften ausmachen.

aus: Robert Levine, Eine Landkarte der Zeit, Wie Kulturen mit Zeit umgehen:

Wohlstand
Je gesünder die Wirtschaft eines Ortes, desto höher sein Tempo.
Wenn eine Stadt wächst, steigt auch der Wert der Zeit ihrer Einwohner parallel zu den steigenden Löhnen und Lebenshaltungskosten der Stadt, so daß ein wirtschaftlicher Umgang mit der Zeit wichtiger und das Leben insgesamt schneller und hektischer wird.
IRVING HOCH

Die wichtigste Determinante für das Tempo, das an einem Ort herrscht, ist die Wirtschaft. Das eindeutigste und konsistenteste Ergebnis unserer Experimente ist, daß Orte mit einer gut funktionierenden Wirtschaft tendenziell ein schnelleres Tempo aufweisen. Die schnellsten Menschen haben wir in den reichen nordamerikanischen, nordeuropäischen und asiatischen Nationen angetroffen, die langsamsten in Ländern der Dritten Welt, besonders in Süd- und Mittelamerika und im Nahen Osten.
Ein schnelleres Allgemeintempo ist auf jeder Ebene eng mit dem Wohlstand eines Landes verbunden: mit der wirtschaftlichen Gesundheit des Landes als Ganzem (gemessen durch das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf); mit dem Wohlstand des einzelnen Durchschnittsbürgers (gemessen durch die Kaufkraft, die einen Anhaltspunkt dafür bietet, wieviel man für ein Durchschnittseinkommen im betreffenden Land kaufen kann) und wie gut die Menschen in der Lage sind, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen (gemessen an der durchschnittlichen Kalorienaufnahme pro Kopf). Menschen aus reicheren Staaten marschieren tatsächlich in einem anderen Takt als jene aus ärmeren Nationen.
Wir müssen nicht in andere Länder reisen, um uns die Verbindung von Wirtschaftskraft und Tempo klarzumachen. In den Subkulturen der einzelnen Länder selbst finden sich besonders aussagekräftige Belege für diesen ökonomischen Erklärungsansatz. In den Vereinigten Staaten beispielsweise legen viele verarmte Minderheiten großen Wert darauf, sich in ihren eigenen, ihnen gemeinsamen Zeitnormen von denen der überwiegenden, angloamerikanischen Mehrheit zu unterscheiden. Indianer sprechen gern vom "Leben nach indianischer Zeit". Mexikanische Amerikaner unterscheiden zwischen der hora inglesa - die sich auf die tatsächliche Uhrzeit bezieht - und der hora mexicana, die mit der Uhrzeit um einiges lockerer verbunden ist. […]

Der Grad der Industrialisierung
Je entwickelter ein Land ist, desto weniger freie Zeit bleibt pro Tag.

Was ist das für eine Regel? Je mehr zeitsparende Maschinen es gibt, desto mehr steht der Mensch unter Zeitdruck.
SEBASTIAN DE GRAZIA, Of Time, Work and Leisure

Eigentlich sollte es uns nicht überraschen, daß die reicheren Orte in unseren Experimenten schnellere Normen hatten. Die Wirtschaftskraft ist eng verbunden mit der Industrialisierung. Historisch gesehen ist die Industrielle Revolution das einschneidendste Ereignis in bezug auf die Temposteigerung der westlichen Welt.
Es ist eine der großen Ironien der Moderne, daß wir trotz all unserer zeitsparenden Erfindungen heute weniger Zeit für uns selbst haben als je zuvor. Das Leben im Mittelalter wird gemeinhin als öde und trübselig dargestellt, doch zumindest in einem waren die Menschen damals ihren Nachfahren weit voraus: Sie hatten mehr Freizeit. Die meisten Zeugnisse lassen vermuten, daß die Menschen eigentlich bis zur Industriellen Revolution wenig Neigung zur Arbeit zeigten. Im europäischen Mittelalter gab es durchschnittlich 115 Feiertage pro Jahr. Es ist interessant, daß sich ärmere Länder auch heute noch im Durchschnitt mehr Feiertage gönnen als reichere.
Oft waren gerade die "zeitsparenden" Erfindungen verantwortlich für das Ansteigen der Arbeitsbelastung. Neuere Forschungen zeigen, daß Bauersfrauen in den zwanziger Jahren, die ohne Elektrizität auskommen mußten, deutlich weniger Zeit auf die Hausarbeit verwendeten als die Hausfrauen in den Vororten in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts mit ihrem ganzen modernen Maschinenpark. Ein Grund dafür ist, daß fast jeder technische Fortschritt mit einer Steigerung der Erwartungen einhergeht. Als zum Beispiel Ende des 17. Jahrhunderts in Holland billiges Fensterglas auf den Markt kam, wurde es plötzlich unmöglich, den Schmutz in den Häusern weiterhin zu ignorieren. […]
Interessant zu beobachten ist, wie die Annehmlichkeiten des modernen Lebens die Nutzung der Zeit verändert haben. Der Anthropologe Allen Johnson verglich beispielsweise die Zeitnutzung bei den Machiguenga-Indianern und bei französischen Arbeitern. Die französischen Arbeiter, so stellt er fest, verbringen mehr Zeit bei der Arbeit und beim Konsumieren verschiedener Dinge (Essen, Lesen, Fernsehen), haben aber beträchtlich weniger freie Zeit als die Machiguenga-Indianer. Dies gilt für Männer und Frauen gleichermaßen. Französische Männer verbringen viermal soviel Zeit damit, die Früchte ihrer Arbeit zu konsumieren, doch sie zahlen einen hohen Preis dafür. Sie haben vier Stunden weniger freie Zeit pro Tag als ihre Vergleichspersonen bei den Machiguenga. Besonders aussagekräftig ist vielleicht Johnsons Feststellung, daß die Annehmlichkeiten des modernen Lebens einen extrem hohen Tribut fordern, weil zu ihrer Erhaltung viel Zeit nötig ist. Die Machiguenga verwenden drei- bis viermal mehr Arbeitszeit zu Hause auf die Herstellung (zum Beispiel von Körben und Kleidung) als auf die Erhaltung (Waschen, Putzen, Reparieren). Bei den Franzosen ist es fast genau umgekehrt. Letzten Endes sind die modernen Haushaltsgeräte, wie der Anthropologe Marvin Harris festgestellt hat, "arbeitssparende Erfindungen, die keine Arbeit sparen". […]

Einwohnerzahl
Größere Städte haben ein schnelleres Tempo

Neben dem wirtschaftlichen Wohlstand ist die Zahl der Einwohner der einzige wirklich aussagekräftige Anhaltspunkt für die Tempounterschiede zwischen verschiedenen Orten. Untersuchungen haben immer wieder gezeigt, daß sich Menschen in größeren Städten insgesamt schneller bewegen als Vergleichspersonen in kleineren Ortschaften.
In einer der ersten Untersuchungen dieses Typs erforschte Herbert Wright als Teil seines schon klassischen Großstadt-Kleinstadt-Projekts das Verhalten von Kindern in typischen großstädtischen Supermärkten und in kleinstädtischen Läden. Als einer der auffälligsten Unterschiede zwischen den beiden Umgebungen erwies sich die verschiedene Gehgeschwindigkeit. Das durchschnittliche Großstadtkind lief beinahe doppelt so schnell durch den Supermarkt wie das Kleinstadtkind durch den kleineren Lebensmittelladen. Die Kleinstadtkinder verwendeten dreimal so viel Zeit auf Interaktionen mit Angestellten und anderen Einkäufern. Sie verbrachten außerdem bedeutend mehr Zeit damit, Gegenstände im Laden anzufassen. […]

KLIMA
Heißere Orte haben ein langsameres Tempo

Auch das alte Stereotyp über das langsamere Leben in wärmeren Gegenden besitzt eine gewisse Gültigkeit. Die langsamsten Völker in unserer 31-Länder-Studie - Mexiko, Brasilien und Indonesien waren die langsamsten überhaupt - liegen in den Tropen, in Gebieten, in denen Menschen aus den schnellsten Ländern - Schweiz, Irland, Deutschland - gern ihren Winterurlaub verbringen. Wenn man die 31 Länder insgesamt betrachtet, stellt man eine enge Beziehung zwischen dem Klima (gemessen an den durchschnittlichen Höchsttemperaturen) und der Geschwindigkeit nach unseren Meßkriterien fest.
Manche Leute glauben, daß sich das langsamere Tempo in warmen Gebieten ergonornisch erklären lasse - daß es auf einen allgemeinen Mangel an Energie zurückzuführen sei. Sicher hat jeder, der schon einmal unter einer Hitzewelle gelitten hat, gemerkt, daß heiße Temperaturen müde machen. Andere gehen davon aus, daß die Langsamkeit einen evolutionär-ökonomischen Hintergrund hat. Sie führen als Argument an, daß Menschen in wärmeren Regionen nicht so hart arbeiten müssen. Sie brauchen weniger und preiswerteren Besitz - weniger Kleider, einfachere Häuser -, also wozu die Eile? Andere schließlich glauben, daß ein wärmeres Klima einfach dazu ermuntert, die Zeit mit angenehmeren Dingen zu verbringen. Wo auch immer die Erklärung zu suchen sein mag, eindeutig ist, daß heißere Orte mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein langsameres Tempo aufweisen.

Kulturelle Werte
In Individualistischen Kulturen bewegt man sich schneller als in vom Kollektivismus geprägten

Das Grundwertesystem einer Kultur spiegelt sich auch in ihren Tempo-Normen. Die wahrscheinlich größten kulturellen Unterschiede betreffen den Antagonismus von Individualismus und Kollektivismus, die Frage, ob eine Kultur sich grundsätzlich am Individuum und der Kernfamilie oder an einem größeren Kollektiv orientiert. Die Vereinigten Staaten haben eine klassische individualistische Kultur. Das traditionell geprägte Asien dagegen neigt dazu, sich auf das Kollektiv zu konzentrieren. In Pakistan und Indien zum Beispiel teilen sich viele Menschen große Häuser mit ihrer Großfamilie - sozusagen einzelne Wohnungen mit gemeinsamer Küchenbenutzung. In Tibet und Nepal leben die Familien zusammen, und es ist ganz üblich, daß Brüder gemeinsam nur eine Frau haben - ein wirtschaftlich sinnvolles Arrangement für Sherpas (Träger), die die meiste Zeit ihres Lebens weit weg von zu Hause verbringen. In einigen kollektivistischen Kulturen erstreckt sich der Familiensinn auf das ganze Dorf oder sogar auf den "Volksstamm". Viele Psychologen, die sich mit Vergleichen verschiedener Kulturen beschäftigen, glauben, daß die Prägung durch Kollektivismus oder Individualismus eigentlich das wesentliche Charakteristikum der Sozialstruktur einer Kultur ist.
Harry Triandis, ein Sozialpsychologe an der University of Illinois, der als bester Fachmann zum Thema Individualismus-Kollektivismus gilt, hat festgestellt, daß individualistische Kulturen im Vergleich zu kollektivistischen mehr Wert auf Leistung als auf Zusammengehörigkeit legen. Diese Konzentration auf die Leistung führt normalerweise zu einer Zeit-ist-Geld-Einstellung, die wiederum in den Zwang mündet, jeden Augenblick irgendwie zu nutzen. In Kulturen, in denen soziale Beziehungen Vorrang haben, findet sich auch eine entspanntere Haltung der Zeit gegenüber. Kollektivistische Kulturen sollten demnach durch ein langsameres Tempo charakterisiert sein. Wir überprüften diese Annahme in unserer 31-Länder-Studie, indem wir die Individualismus-Kollektivismus-Bewertung- jedes Landes mit seinen Zeiten bei unseren drei Experimenten verglichen. Unsere Ergebnisse bestätigten die Hypothese: Stärkerer Individualismus war eng verbunden mit schnellerem Tempo.
Eine Kultur, die sich auf die Menschen konzentriert, hat, wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden, oft Probleme mit einem Tempo, das von Zeitplänen und der Uhrzeit bestimmt wird. In einigen kollektivistischen Kulturen wird Zeitdruck nicht nur heruntergespielt, sondern offen verabscheut. Der Anthropologe Pierre Bourdieu hat zum Beispiel die Kabyle besucht, ein kollektivistisch orientiertes Volk in Algerien. Die Kabyle, so stellte er fest, wollen mit Schnelligkeit nichts zu tun haben. Sie verachten jeden Anschein von Eile in ihren sozialen Angelegenheiten und betrachten ihn als "Mangel an Anstand, gepaart mit teuflischem Streben". Uhren bezeichnen sie als "Mühlen des Teufels"!

Der Schlag der eigenen Trommel
Die Zeit vergeht bei verschiedenen Menschen verschieden schnell.
WILLIAM SHAKESPEARE, "Wie es Euch gefällt"

In diesem Buch geht es um die Unterschiede im Lebenstakt zwischen den Kulturen und Regionen. Ganz offensichtlich gibt es aber auch gewaltige Tempounterschiede zwischen Individuen, die derselben Kultur angehören, wie auch zwischen solchen, die in derselben Stadt leben. Nachbarn können sich sowohl in ihren persönlichen Vorlieben als auch in der Wahrnehmung des Lebenstempos unterscheiden.
Meist hat man sich bei der Betrachtung individueller Unterschiede auf das Konzept des inneren Zeitdrucks konzentriert - das Bemühen, so viel wie möglich in möglichst kurzer Zeit zu leisten. Innerer Zeitdruck ist eine der bestimmenden Komponenten beim Verhaltensmuster Typ A. Meyer Friedman und Ray Rosenman beschreiben die herzinfarktgefährdete Persönlichkeit als ungeduldig, mit der Tendenz, schnell zu gehen, schnell zu essen, zwei Dinge gleichzeitig zu tun und stolz darauf zu sein, daß sie immer pünktlich ist. Jenkins Activity Survey, der bekannteste Test für das Typ-A-Verhalten, mißt diese Charakteristika mit einer " Schnelligkeits und Ungedulds-"Skala. Verschiedentlich wurden in jüngerer Zeit andere Typ-A-Skalen entwickelt, unter Namen wie "Innerer Zeitdruck", "Ständige Aktivierung" und "Zeitschloß". Bei allen diesen Untersuchungen wurden große individuelle Unterschiede in bezug darauf gemessen, wie wichtig es den Menschen war, jeden Moment zu nutzen.
Wir sollten diese Ergebnisse über "langsame" und "schnelle" Menschen jedoch nicht allzu sehr verallgemeinern. Wie bei den Kulturen, so kann auch bei einzelnen Individuen das Tempo abhängig von der Zeit, vom Ort und von der Tätigkeit stark variieren. Wenn Sie eine exakte Einschätzung Ihrer eigenen Neigung zum inneren Zeitdruck erhalten wollen, müssen Sie ein großes Spektrum von Verhaltensweisen betrachten. […]