Unsichtbares Theater
Unsichtbares Theater ist eine Theatermethode, bei der man im öffentlichen Raum ein „Theaterstück“ aufführt, ohne es als solches zu deklarieren. Der öffentliche Raum wird zur Bühne - und alle zu Mitspielenden.
Im „Theater der Unterdrückten“ (gegründet vom brasilianischen Theaterpädagogen Augusto Boal) sollen durch Theater Unterdrückungsmechanismen aufgezeigt werden und Leute ermächtigt werden, sich von diesen Unterdrückungen zu befreien. Theater wird somit als eine Form der Befreiung und des Aktionismus verwendet. Auch das unsichtbare Theater gehört zu seinem Repertoire. Wo es zuallererst eingesetzt wurde, lässt sich nicht genau sagen, manche meinen in Europa der 30er Jahre im Widerstand gegen den Faschismus. In den 60er hat Augusto Boal, es als eine Variante seines „Theater der Unterdrückten“ adaptiert.
Unsichtbares Theater ist eine politische Kunstform, die bewusst Szenen von der Bühne in den öffentlichen Raum verlegt, um eine Reaktion, quasi ein „Mitspielen“, von Passant/innen hervorzurufen. Somit kann jeder Ort zur Bühne werden und die Grenzen zwischen Zuschauer/innen und Darstellenden verschwimmen, wie das beim Theater der Unterdrückten öfter der Fall ist. Die Darstellenden überlegen sich vorher eine Szene und führen diese dann im öffentlichen Raum auf. Es kann vorher überlegt werden, wie die Zuschauenden reagieren könnten, um so im passenden Moment auch wiederum reagieren zu können. Der „Ausgang“ bzw. die Handlung ist dadurch aber nicht mehr völlig planbar.
Gerade deshalb soll der Anfang gut geplant sein: Neben der Darsteller/innen, die den „Konflikt“ (meist dreht es sich um einen Konflikt) mimen, gibt es noch Beobachter/innen, die die Reaktionen der anderen verfolgen bzw. im Bedarfsfall aktiv werden, falls von anderer Seite niemand einschreitet. Das Ziel hinter unsichtbarem Theater in der Tradition von Boal ist, den Blick auf gewisse Dinge zu lenken, auch zu irritieren und somit Denkprozesse anzuregen.
In der Regel wird das Unsichtbare Theater auch nicht aufgelöst oder den Zuschauenden erklärt (es sei denn, es muss abgebrochen werden), denn die Wirkung, der Denkprozess soll auch ohne Auflösung weiterwirken.
Im Jahr 2008 habe ich im Zuge eines Boal-Lehrgangs auch Straßentheater gespielt. In der Szene, die wir uns aussuchten und im Vorhinein gemeinsam erarbeiteten, ging es um sexuelle Übergriffe im öffentlichen Raum. Sowohl in der Lugner City, als auch in der U-Bahn führten wir in einer Gruppe von ca. 6 Leuten eine Szene auf, in der zwei Männer mit ihrem Handy Fotos vom Hintern einer jungen Frau machten, die sich in Folge darüber laustark beschwert und die Männer damit konfrontiert. Andere von uns waren im selben Abteil und haben sich entweder eingemischt, beobachtet, andere Mitfahrende darauf aufmerksam gemacht oder sind darüber ins Gespräch gekommen.
Die Reaktionen waren ganz unterschiedlich. Teilweise kamen gar keine Reaktionen, teilweise wurden wir positiv überrascht, indem die junge Frau in ihrer Entrüstung verstanden und unterstützt wurde.
Ein für mich spannender Punkt war, dass man auch mit den eigenen Vorurteilen konfrontiert wird: in unsere Fall war überraschend, dass zwei Jugendliche, die wir Darsteller/innen von ihrem Aussehen und Auftreten eher auf der Seite derer sahen, die so was vielleicht selber machen würden, als einzige aktiv geworden sind und den beiden „Übeltätern“ folgen wollten um sie vermutlich zur Rede zu stellen.
Unsichtbares Theater ist immer auch etwas heikles, da man eben nie genau weiß, wie die Szene sich im öffentlichen Raum weiterentwickeln wird. Daher ist hier gerade mit Kindern Vorsicht geboten, sodass niemand zu etwas gedrängt wird, was die Person nicht tun möchte, oder wobei sie in eine unangenehme Situation kommt. Ein Modell, wie man unsichtbares Theater mit Kindern angehen kann, findet ihr auf den folgenden Seiten.
Clemens Huber
[aus dem kumquat "ungehorsam" 2012]