Das Theater der Unterdrückten
Theater ist dir sicher ein Begriff. Jede und jeder von uns war sicherlich schon einmal in einer Theateraufführung. Es gibt ganz unterschiedliche Formen von Theater: Tanztheater, Musiktheater, Sprechtheater, Ballet, Figurentheater,… Auch die Themen, die in Theaterstücken aufgegriffen werden, sind sehr vielschichtig: Kriminalgeschichten, Biografien, Liebesgeschichten, Komödien, politische Geschehnisse…
Wenn wir an Theater denken, denken wir wahrscheinlich in erster Linie an Stücke, die von Schauspieler/innen einstudiert und dann einem Publikum vorgeführt werden. Bei dieser klassischen Form des Theaters hat das Publikum oft keine Rolle, sondern kann als Zuschauende/r das betrachten, was auf der Bühne geboten wird.
Theater aus Sicht des Volkes
Schon seit der Antike gab und gibt es immer wieder Menschen, die Theater als Möglichkeit sahen und sehen, vorherrschende gesellschaftliche Strukturen in Frage zu stellen, zu kritisieren um Menschen auf Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen, Bewusstsein zu schaffen und sie so zu motivieren, sich für eine Veränderung einzusetzen. Der brasilianische Theatermacher Augusto Boal war einer, den Theater auf diese Art und Weise interessierte. Er beteiligte sich gemeinsam mit seiner Gruppe des Teatro de Arena de Sao Paulo in den 1950er und 1960er Jahren an der Entwicklung eines brasilianischen Volkstheaters. Volkstheater bedeutete für Boal, Theater für das Volk aus der Perspektive des Volkes. Volkstheater soll Theater sein, das zeigt, dass sich die Welt im Wandel befindet und Veränderung möglich ist.
Boal und seine Schauspieler/innen führten Stücke abseits der großen Theater auf - auf den Straßen der Armenviertel, um die Leute dort dazu zu bringen, sich ihrer Probleme bewusst zu werden, sich zu organisieren und sich gemeinsam gegen Ausbeutung zu wehren. Irgendwann war Augusto Boal nicht mehr damit zufrieden, den Leuten etwas vorzuspielen, sie zu belehren oder aufzuklären. Er erkannte, dass er nicht mehr wusste, als seine Zuschauer/innen, dass er nicht weiser war. Früher führte er Stücke auf, in denen zum Kampf für mehr Gerechtigkeit aufgerufen wurde. Doch er erkannte, dass die Realität dann doch eine ganz andere war und dass die Zuschauer/innen diese am besten kannten. In Folge hat Augusto Boal mehrere Formen von Theater entwickelt, in denen sich der Unterschied zwischen passiven Zuschauenden und aktiv Mitwirkenden auflöst, damit Schauspieler/innen und Zuschauer/innen gleichermaßen voneinander lernen können. Dieses Theater, das sich von klassischen, „autoritären“ Formen stark unterscheidet, nannte Boal „Theater der Unterdrückten“ (TdU), bei dem die Arbeit mit Situationen, in denen Menschen unterdrückt werden, im Vordergrund steht.
Für das Theater der Unterdrückten hat Augusto Boal zahlreiche Techniken entwickelt. Eine davon ist zum Beispiel das Zeitungstheater, bei dem mit Hilfe von unterschiedlichen Techniken Zeitungstexte neu gelesen, gedeutet und verstanden werden sollen. Eine andere Form ist das unsichtbare Theater bei dem ein Stück im öffentlichen Raum, abseits der Bühne gespielt wird. Die Zuschauenden sind die Passant/innen. Sie wissen nicht, dass sie Zuschauende eines Stücks sind und werden somit zu Akteur/innen.
Eine andere Technik des Theaters der Unterdrückten ist das Forumtheater: ein Stück wird vorgespielt und dann werden die Zuschauer/innen aktiv ins Geschehen eingebunden, indem das Stück noch einmal gespielt wird und die Zuschauenden aufgerufen werden, den/die Schauspieler/in zu ersetzen und neue Lösungen auszuprobieren.
Eine Grundmotivation Boals war es, sich bewusst zu werden und zu erkennen, dass Widerstand gegen Unterdrückung gelernt und geübt werden kann und muss. Unterdrückung existiert, weil man/frau sich unterdrücken lässt. Das Theater der Unterdrückten ermöglicht, zu üben sich aus der Unterdrückung zu befreien. Da Unterdrückungssituationen sowohl in den Ländern der sogenannten „Dritten Welt“ als auch in Ländern wie Österreich präsent sind, wird das Theater der Unterdrückten in zahlreichen Varianten und Kontexten angewandt: in der Schule, in der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit oder auch in Entwicklungszusammenarbeitsprojekten.
Theater der Unterdrückten in der Jungschar
Theater kann auch in der Jungschar gemacht/verwendet werden! Fast jeden Tag sind wir mit Situationen konfrontiert, in denen Menschen nicht Ernst genommen werden, in denen Menschen vorgesetzt wird, was sie zu tun haben oder was sie zu unterlassen haben. Oft werden Menschen vor unseren Augen unterdrückt, beschimpft, diskriminiert. Kennst du zum Beispiel das Gefühl, in öffentlichen Verkehrsmittel Zeug/in von Vorfällen zu sein, in die du dich gerne einmischen würdest aber nicht weißt, wie? Auch deine Jungscharkinder kennen sicher Situationen, in denen sie oder andere nicht angehört, ignoriert, bestraft werden... Theater kann eine Methode sein, sich Situationen bewusst zu werden, indem man/frau sie spielt und dann auch neue Möglichkeiten zu entdecken, indem man sie spielerisch ausprobiert.
Die Rolle des/der Gruppenleiters/in
Vielleicht hast du mit deiner Gruppe schon Spiele oder Übungen gemacht, in denen ihr unterschiedliche Rollen eingenommen habt? Manche Kinder tun das gerne, andere nicht. Du kennst deine Gruppe am besten und weißt wahrscheinlich, ob Theater etwas ist, das deinen Kindern Spaß machen kann.
Bei allen Rollenspiel- und Theaterübungen ist deine Rolle als Gruppenleiter/in wichtig. Du musst darauf schauen, dass es deinen Kindern gut geht, bei dem was ihr gemeinsam tut. Falls du Lust hast, Theaterübungen auszuprobieren, ist es wichtig, am Beginn klar zu stellen, dass alle Übungen freiwillig sind. Niemand muss mitmachen. Jede/r kann aussteigen, wenn es ihm/ihr nicht gefällt. Und es gibt eine besondere Regel: sagt jemand „stopp!“, hört ihr alle auf, das zu tun was ihr gerade tut – stopp bedeutet nämlich „Mir geht’s mit dem, was gerade passiert nicht gut. Bitte hören wir damit auf.“
Betti Zelenak
[aus dem kumquat "grün" 2010]