Erzähl mir keine Märchen! Oder doch?

Obwohl Märchen wohl ursprünglich nicht für Kinder gedacht waren, sind – spätestens seit Erscheinen der „Kinder- und Hausmärchen“ der Gebrüder Grimm vor 200 Jahren – tausende von Kindern mit diesen grausamen Geschichten aufgewachsen. 200 Jahre lang wurden die Geschichten immer wieder neu aufgelegt und formuliert, teilweise sogar ganz grob inhaltlich verändert (Wer weiß denn zum Beispiel heute noch, dass der Froschkönig ursprünglich durch einen Wurf an die Wand seine menschliche Gestalt zurück bekam?). In der einen oder anderen Form – sei es Omas Stimme, das Bilderbuch oder eine Disney-Version – hat jeder von uns Bilder dieser großen Geschichten im Kopf. Für die meisten von uns gehören sie wohl auch zu den intensivsten Kindheitserinnerungen.

Haben Märchen nach all diesen Jahrhunderten immer noch Aktualität? Tun Märchen Kindern gut? Und: Sollen wir wollen, dass Kinder Märchen wollen?

Ja!

Der Kinderpsychologe Bruno Bettelheim behauptet in seinem gleichnamigen Buch provokant: „Kinder brauchen Märchen“. Er meint, Märchen seien einzigartig, nicht nur weil die Kinder sie mögen sondern auch, weil sie die großen Themen des Lebens ansprechen – das Erwachsenwerden und Ablösen von den Eltern, das Vereinen von unterschiedlichen Extremen.

Außerdem funktionieren Märchen in einigen Punkten wie Träume – und auch so, wie Kinder denken: Es gibt Gutes und Böses, und die beiden müssen ganz klar voneinander abgegrenzt sein. Obwohl die Situation oft eine ganz realistische ist, wie zum Beispiel bei „Hänsel und Gretel“ die Armut der Eltern, mischt sich die Erzählung immer mit übernatürlichen oder magischen Elementen – so wie Kinder sich die Grenzen der Realität oft noch nicht wirklich vorstellen können.

Ein Setting, das in Märchen besonders oft vorkommt, ist das der Patchworkfamilie. Auch wenn Patchworkfamilien zur Zeit der Entstehung der Geschichten noch viel häufiger durch das Sterben eines Ehepartners zustandegekommen sind, ist die Situation des Lebens mit Stiefelternteilen für Kinder heute wohl manchmal ähnlich schwierig wie damals. So finden Kinder sich oft auch heute noch mit ihrer eigenen Situation in den Geschichten wieder.

Das beste Argument für Märchen ist aber meiner Meinung nach auf jeden Fall ihr Optimismus: Egal, welche Grausamkeiten den (oft jugendlichen) Märchenfiguren wiederfahren – von den Eltern eingesperrt, betrogen und gequält zu werden ist ja keine Seltenheit in diesen Geschichten – am Schluss schaut immer ein gutes Ende für sie heraus. Nach dem altbewährten Grundsatz „Ende gut – alles gut“ gibt es die Gewalt, die einem angetan wird, immer nur in Verbindung mit der Sicherheit, dass es schon gut ausgehen wird. Diese Vorstellung ist ja nicht nur für Kinder ansprechend, aber gerade für sie noch wichtiger, weil sie Mut macht und manchmal vielleicht sogar Angst vor dem eigenen Leben vergessen macht.

Nein!

Andererseits könnte man ja auch sagen, dass Kindern im Normalfall keine grausamen Action-Filme gezeigt werden. Wir stoßen sie nicht mit der Nase auf die Schreckensmeldungen in den Zeitungen und versuchen im Allgemeinen auch sonst, sie von Gewalttaten fern zu halten.

Viele Kinder wollen auch gar keine Märchen hören oder lesen – ihnen sind die Bösen zu böse und manche Kinder finden die oft grausame Bestrafung der besiegten Bösen am Schluss sogar unfair. Da lässt sich ja auch schwer dagegen argumentieren: Wollen wir wirklich, dass die Kinder lernen, andere zu bestrafen, indem sie sie in einen Ofen stoßen?

Ein weiteres gewichtiges Gegenargument ist, dass Märchen in allen Facetten „Kinder ihrer Zeit“ sind, eben auch in den geschlechterbezogenen Rollenbildern: Der Prinz kommt, um die Prinzessin zu retten („Dornröschen“), der Vater hat die Macht über seine Tochter zu entscheiden („Froschkönig“), nur der (männliche!) Jäger kann Frauen und Kinder vor dem bösen Wolf retten („Der Wolf und die sieben Geißlein“, „Rotkäppchen“). Es ist wohl doch eher fraglich, ob das die Rollenbilder sind, mit denen wir Kinder in die Zukunft schicken wollen.

Conclusio

Das, was viele Kinder wohl an Märchen so toll finden ist ja vielleicht (zumindest teilweise) auch etwas anderes als die Geschichten selbst: Die Zeit, die sich Papa, Mama, Opa oder Oma nehmen um sie vorzulesen, das Einkuscheln im großen Lehnsessel, der Kakao, den man dabei vielleicht bekommt, und das leichte Gruseln, während man ganz sicher sein kann, dass einem selbst nichts zustoßen wird. All diese Dinge lassen sich ganz sicher auch mit anderen Geschichten herbeizaubern.

Grundsätzlich lässt sich wohl sagen, dass jede/r Vorleser/in sich selbst Gedanken darüber machen sollte, ob er/sie diesem speziellen Kind ein Märchen vorlesen will, es gibt jedenfalls für beide Seiten gute Argumente. Auf jeden Fall kann man in diese Überlegungen einfließen lassen, dass es von jedem Märchen verschiedene Versionen gibt, und beim Erzählen sind unserer Phantasie – und natürlich auch der der Kinder – keine Grenzen gesetzt.

Nani Ferstl

kumquat "Mythen" 1/2013