Stell dir vor, du setzt dich mit deinen Jungscharkindern zusammen und erklärst ihnen folgendes Spiel: Ihr wollt in Zukunft gemeinsam in der Pfarre leben. Es gibt den Pfarrgarten, in dem ihr Gemüse anbauen und Hendln züchten könnt, vielleicht ist sogar Platz für eine Kuh – und das Pfarrzentrum, in dem ihr wohnen und eure Produkte für den täglichen Gebrauch basteln könnt: Vielleicht Perlenschmuck und Gänseblümchenketten zum Tauschen, Tonschalen zum Essen oder gestrickte Wollschals, selbstgeschriebene Geschichten, gebackene Kuchen – was ihr eben so braucht. Ihr lebt also einige Zeit zusammen und findet eigentlich alles ganz nett. Bis…
Spielregel Nummer I
… die wichtigste Regel ins Spiel kommt: Ihr müsst jeden Tag mehr herstellen, als am Tag zuvor. Ihr braucht mehr Essen, mehr Schmuck, mehr Tongefäße, mehr Wollschals! Und außerdem muss jeden Tag mehr Zuwachs als am Vortag sein! Also wenn am ersten Tag eine Tonschale gemacht wurde, und am zweiten Tag eine mehr, also gesamt dann Zwei, solltest du am dritten Tag zumindest zwei Tonschalen mehr basteln, also insgesamt Vier! Denn nur dann kann alles gut gehen! Ihr solltet also mehr Hühner züchten, länger in der Küche zum Backen bleiben, mehr erzeugen! Und zwar jeden Tag mehr als am vorigen! Sonst bricht das ganze System zusammen!
Was würden deine Kinder wohl zu dieser Spielregel sagen? Ich denke, sie würden dir ganz schön schnell klarmachen, dass das ja kurz ganz lustig ist, aber nicht lang gut gehen wird: Es gibt nicht genug Platz für immer mehr Hühner - und was sollt ihr eigentlich mit 20 Wollschals machen?
Spielregel Nummer II
Nun denn, die Einwände deiner Kinder überhörst du fürs Erste einmal und erzählst ihnen stattdessen gleich von der zweiten Regel, die es in eurem Spiel gibt: Es wird jeden Tag eine Rangliste erstellt. Jede/r von euch muss versuchen, mehr als alle anderen herzustellen, um auf der Rangliste ganz oben zu stehen! Dazu sollte jede/r basteln, kochen oder die Kuh melken – und das natürlich schneller machen als alle anderen! Nur ein einziges Kind darf zufrieden mit sich sein, weil er/sie am schnellster und längsten herumgehetzt ist – und darum ganz oben auf der Liste steht. Alle anderen Kinder, die weniger hergestellt haben, vielleicht weil sie die Kuh gestreichelt, gemeinsam geplaudert oder den Kuchen mit besonders viel Liebe gebacken haben, sollten am nächsten Tag härter spielen und weniger Spaß haben.
Deine Kinder würden sich wohl kurz hinter deinem Rücken an die Stirn tippen: In der Pfarre gemeinsam Zeit verbringen klingt ja nett, aber was ist denn das noch für ein Zusammenleben, wenn alle herumeilen und für sich alleine nur leisten müssen?
YOU are in the game.
Was also jedes Kind im Kleinen sofort als spaßlose Angelegenheit erkennt, betreiben wir alle im großen Stil seit über hundert Jahren. Das Spiel ist das Leben, die selbstauferlegten Spielregeln nennen wir: Kapitalismus. Einige Zeit funktionieren diese Spielregel für einige ganz gut: Solange der „Pfarrgarten“ noch unbenutzte Flecken Land übrig hat, die man benutzen kann und solange es genug Mitmenschen gibt, die immer mehr Produkte haben wollen und daher die „selbstgebastelten Dinge“ tauschen – gegen bunte Geldscheine, in der großen Version des Spiels. Gleichzeitig machen die Spielregeln auch große Probleme: Denn im echten „Pfarrgarten“ leben nicht nur wir, sondern mehrere Milliarden Menschen, und oft sehen wir im „Pfarrheim“ gar nicht, was für Auswirkungen unsere Hühnergacke und Kuhfladen für die Menschen haben, die am anderen Ende des „Pfarrgartens“ leben. Außerdem, einmal ehrlich: Wie realistisch klingt „ewiges Wachstum“ als Spielregel? Irgendwann geht doch gar nicht mehr mehr! Wieso darf das was da ist, niemals genug sein?
Und dann noch die zweite Spielregel mit der ewigen Konkurrenz – sind wir nicht im „Pfarrgarten“, damit wir es zusammen nett haben? Wieso sollten wir einander nur mehr als Gegner/innen sehen, statt gemeinsam etwas zu schaffen? Ist es sinnvoller, dass ich mich freue, einen Kuchen mehr als meine Nachbarin zu haben – als gemeinsam mit ihr zu backen?
Game over…
Die Regeln, in denen wir stecken, führen oft dazu, dass wir es weniger nett haben als es möglich wäre - das glaube ich. Fakt ist aber, dass unsere Spielregeln für viele Millionen Menschen im globalen Süden schwerwiegende Probleme bereiten – lebensgefährdende Probleme. Denn sie werden von unseren Regeln ganz unten auf der Rangliste festgehalten: Unsere Spielregeln sorgen dafür, dass jene, die nicht in einer Hochleistungsgesellschaft aufwachsen und andere Startvoraussetzungen haben, auch keine wirkliche Chance bekommen. Für sie ist das Spiel von Anfang an entschieden – und verloren. Aber wir hier müssen die Spielregeln befolgen, egal was es kostet.
Play again?
Das unpraktische an diesem Spiel ist: Es ist in unseren Köpfen. Die Regeln haben wir alle als Kinder schon gelernt, sie sind uns in Fleisch und Blut übergegangen. Das System Kapitalismus lässt keine Alternative zu, wir haben als kleine Spielfiguren ja auch überhaupt keine Macht, dieses übermächtige Regelwerk zu ändern. Oder?
Diese Regeln, die unsere Wirtschaft beherrschen, sind erfunden, von Menschen gemacht. Dass es die einzig möglichen Regeln sind, das ist reiner Mythos! Der größte Mythos der Welt! Dieser Mythos durchdringt unsere Gesellschaft, die Supermarktregale, die Arbeitswelt und das Schulsystem. Er besteht eigentlich nur aus einigen Spielregeln - und das Spiel kann nur solange funktionieren, wie wir auch mitspielen und den Regeln folgen. Jeder Mensch hat die Möglichkeit, sich die Regeln seines Lebens frei auszusuchen. Niemand muss nach den Regeln vom Kapitalismus-Spiel spielen, nur weil diese Regeln halt am öftesten vorgelesen werden. Natürlich ist es manchmal schwierig und ungewohnt, sich diesen Spielregeln „Konkurrenz“ oder „ewiges Wachstum“ nicht mehr zu beugen (zum Beispiel wenn man in der Jungschar Spiele ohne Gewinnen und Verlieren spielt).
Vielleicht würden wir den Kindern der Zukunft ja vorschlagen, das Spiel auszuprobieren – nur mit anderen Regeln: Alle Menschen leben zusammen, es gibt Hendln im Garten und Kühe, und jede/r schafft am Tag die Dinge, die ihm am Herzen liegen – nur tun wir alles zusammen und nehmen uns dabei Zeit. Die Regel, dass wir immer mehr und mehr produzieren, ist ersetzt worden durch die Regel, dass es genug zum Leben für alle geben muss. Und die Regel, dass jede/r besser als alle anderen sein muss, ist ausgetauscht worden durch die Regel, dass man möglichst viel gemeinsam und in Einklang mit der Natur schafft. Klingt unrealistisch? Nicht unrealistischer als der Mythos, den wir alle im Moment leben. Und, ganz ehrlich: Welches Spiel würdest du mit deinen Kindern lieber spielen?
Conni Barger
kumquat "Mythen" 1/2013