Eine Ohren-Geschichte aus Sansibar

Zurzeit verbringe ich drei Monate auf Sansibar, eine Insel im indischen Ozean, die zu Tansania in Ostafrika gehört. Hier arbeite ich bei einem Projekt mit, das auch mit Geldern der Sternsingerkation unterstützt wird. Frauen schließen sich zu Gruppen zusammen und starten kleine Projekte, um ein Einkommen zu haben. Außerdem bieten wir Seminare und Weiterbildungen an, bei denen es vor allem um Frauen- und Kinderrechte geht.



Am Beginn eines Seminars ist es hier üblich, dass Teilnehmer/innen eine Aufgabe für den Tag erhalten. So wird eingeteilt, wer das Protokoll schreibt, wer der/die Sprecher/in der Gruppe ist, wer für Aktivierung zwischendurch verantwortlich ist, wer auf die Zeit achtet, usw. Es gibt auch diejenigen, die am Ende des Tages berichten sollen, was geschehen ist. Interessanterweise wird hier auf mehreren Ebenen berichtet. So gibt es „die Augen”, die erzählen was sie gesehen haben und es gibt die „Ohren”, die davon berichten, was sie so alles gehört haben.

Ich finde, das ist ein interessanter Zugang und will versuchen, in diesem Artikel zu erzählen, was meine Ohren hier auf Sansibar so zu hören bekommen…

Um fünf Uhr morgens schrecke ich hoch. Der Muezzin der nahen Moschee weckt mich mit seinen morgendlichen Gebeten. Vertraut klingen mittlerweile die Melodien der Asana. Die Hunde der Stadt beginnen zu jaulen – ihnen scheint die Tonlage in den Ohren weh zu tun. Wieder eingeschlafen, werde ich ca. um sechs Uhr ein weiteres Mal geweckt. Diesmal sind es die Kirchenglocken der nahen Kathedrale, die zum Angelus rufen (Sansibar ist zu 98% muslimisch, im Vergleich dazu: am Festland Tansanias sind Christentum und Islam in etwa gleich verteilt. Es ist eine neue Erfahrung für mich, als Christin einer Minderheit anzugehören. Doch kehren wir zurück zu meinen Ohren…). Ach ja, und zwischen Muezzin und Kirchenglocken kräht immer wieder mal ein Hahn vor dem Fenster, diese halten sich aber nicht so streng an die Uhrzeit…

Am Weg zum Frühstück und später ins Büro, dringt das Wort „habari” besonders oft an meine Ohren. Habari bedeutet „Nachricht” und wird dafür verwendet, sich nach dem Wohlbefinden zu erkundigen. Habari za asubuhi, habari za tangu jana, habari za nyumbani, habari za kazi, habari za leo, habari za saa hizi (Was gibt‘s für Nachrichten/Neues von; Wie geht‘s am Morgen, seit gestern, zu Hause, in der Arbeit, heute, zu dieser Stunde,…). Dieses Begrüßungsritual wird den ganzen Tag über immer wieder wiederholt, immer dann, wenn Menschen sich begegnen. Die häufigste Antwort ist nzuri: gut.

Im Büro sind wohl zwei Geräusche die markantesten: das Tippen auf dem Computer, um einen Bericht oder Brief zu schreiben, und die vielen Gespräche. Das sind zum Teil Beratungsgespräche mit Menschen, die hierherkommen, um um Hilfe zu bitten. Dann wieder sind es Menschen, die Informationen über die Situation in den Dörfern bringen, und wir diskutieren im Team, planen und reflektieren unsere Aktivitäten, und so weiter. Hier gäbe es viele Geschichten zu erzählen.

Heute wäre ein Seminar gewesen, aber da es einen Todesfall im Nachbarort gab, müssen wir es verschieben.

Maria und Fatuma kommen ins Büro. Fatuma ist 17, ihre Eltern sind gestorben und sie lebt mit ihrer Großmutter Maria bei einem Onkel. Seit die Familie weiß, dass Maria HIV-infiziert ist, haben sie es sehr schwer. Sie müssen ihr eigenes Essen kochen, getrennt schlafen und niemand spricht mit ihnen. Sie bitten um Rat, wie sie mit dieser Stigmatisierung umgehen können.

Gertrud besucht uns und erzählt stolz von den Erfolgen ihrer Gruppe. Sie wollen die Ziegenzucht vergrößern und bittet um Unterstützung bei der Suche nach einem Ziegenbock.

Patricia kommt vorbei. Sie hat bei einem Seminar zu „Lobbying and Advocacy“ teilgenommen und bringt nun Fallbeispiele aus ihrer Region, die sie dokumentiert hat. Das heißt sie dokumentiert Fälle von Menschenrechtsverletzungen, häuslicher Gewalt und sonstigen Vorkommnissen, die sie für wichtig hält und bringt sie ins Büro, um dann gemeinsam mit uns zu überlegen, wo interveniert werden muss.

Abends nach der Arbeit schlendere ich durch die Stadt. Die Händler/innen preisen ihre Waren an, die Vespas hupen und sausen durch die engen Gassen, unterschiedlichste Musik klingt aus den Häusern: Arabische, indische, Reggea, tansanischer Hip Hop und auch bekannte englische Popsongs. Männer unterhalten sich beim Keram-Spiel, Kinder spielen, ich höre wie Jugendliche versuchen, Tourist/innen eine Fahrt zu den Inseln oder Kunsthandwerk zu verkaufen, und vernehme leicht genervte Stimmen auf englisch, italienisch oder auch auf deutsch.

Ich plaudere mit einem Bekannten, Said, er verkauft gebrauchte Bücher, und werde mal wieder gefragt, warum ich noch nicht verheiratet bin und Kinder habe. Irgendwie sind meine Erklärungen nie sehr befriedigend. Heute meint Said: „Weißt du, es ist vermutlich deshalb anders, weil du länger leben wirst”. Ich schaue verdutzt und er meint: „Naja, hier liegt die Lebenserwartung bei 44, bei euch habt ihr wohl mehr Zeit, um eine Familie zu gründen”. Hm.

Während dem Abendessen laufen die Nachrichten. Zunächst geht es um News aus Tanzania, dann um Nachrichten aus Ostafrika und schließlich um das internationale Geschehen. Die Nachrichten dauern sehr lang und es kommen sehr viele Menschen zu Wort, einfache Menschen, die zu den Geschehnissen befragt werden, hitzige Reden der Politiker/innen, die kurzen internationalen News berichten heute, wie eigentlich fast täglich über Barack Obama, er ist hier sehr beliebt.

Die Sonne ist am Untergehen, der Muezzin ruft zum Abendgebet, die Hunde beschweren sich darüber, und auch meine Ohren sind müde vom langen Tag.

Clara Handler (2009)