Ist die Demokratie heute in der Krise?

Liebe Demokratie, ist alles gut bei dir? Wenn wir uns manche Entwicklungen anschauen, müssen wir etwas zweifeln: Wer hätte sich schon vorstellen können, dass Populisten wie Donald Trump einmal Präsident der USA werden oder die britische Bevölkerung einem Ausstieg aus der Europäischen Union zustimmt? Da stellt sich so manche/r die Frage: Geht die Demokratie den Bach runter?

Im September 2019 gaben rund 75% der Wahlberechtigten ihre Stimme bei der Wahl zum Österreichischen Nationalrat ab. 2014 im Rahmen der Wahl zum Europäischen Parlament waren es nur 45,39%, also nicht einmal die Hälfte aller Wahlberechtigten! Klassische Stammtischerklärungen lassen sich hierzu einige aufzählen: Die Relevanz der Europäische Union ist Nichtwähler/innen unbekannt, Nichtwähler/innen haben einen schlechten Bildungsstandard und verstehen derartig komplexe Themen nicht oder die Menschen sind von den politischen Entwicklungen einfach frustriert. Die Lösung scheint dementsprechend einfach: Bildung und Kommunikation – Aufklärung der Nichtwähler/innen.

In der Realität zeigt sich jedoch, dass derartig simple Parolen überzeichnete Bilder sind, welche nicht die „echte“ Welt widerspiegeln. Diese ist nämlich in der Regel weitaus komplexer, vielfältiger und unschärfer als einfache Erklärungen es erscheinen lassen. Deshalb haben wir versucht, unsere einleitenden Fragen aus einer wissenschaftlichen Perspektive zu untersuchen.

Dieser Artikel soll einen kurzen Einblick in diese Recherche geben und einen Eindruck vermitteln, wie es um die Demokratie in Österreich steht, warum Menschen nicht wählen gehen und woher dieses Gefühl von Demokratieverlust kommen könnte.

“Aus einer wissenschaftlichen Perspektive” - klingt sperrig, heißt aber eigentlich nur, systematisch Überlegungen von anderen Wissenschaftlern/innen zu lesen, versuchen diese zu prüfen und manchmal auch abwegigen Ideen nachzugehen, um so Muster und Zusammenhänge zu entdecken, die ansonsten schnell übersehen werden.

Erste Antworten auf unsere Fragen finden wir in einer länderübergreifenden Umfrageforschung aus dem Jahr 2014: 19% der österreichischen Bevölkerung gaben an, das politische System erlaube der Bevölkerung weder, die Regierung anzuleiten, noch Einfluss auf die Politik auszuüben. Knapp ein Viertel (24,8%) beschreiben ihr Vertrauen in das Parlament als sehr gering. Beinahe ein Zehntel der befragten Personen (9,3%) geben an, überhaupt kein Vertrauen in politische Parteien zu haben.

Die analysierten Daten lassen zwar keine Rückschlüsse auf Veränderungen zu, zeigen jedoch deutliche Zweifel an politischen Institutionen auf. Aber warum fühlen sich so viele Menschen in der österreichischen Demokratie nicht vertreten?

Der französische Soziologie Robert Castel und der österreichische Soziologe Jörg Flecker beurteilen dies als einen weiteren Trend, welcher weit über die Staatsgrenzen europäischer Gesellschaften hinausgeht. Ihre Problemdiagnosen drehen sich um Arbeit, Anerkennung und Identität. Arbeit gilt bis heute für das Verhältnis der Menschen zu ihrer Identität als prägend - "Du bist, was du arbeitest!", könnte man auch sagen.

Seit den 1980er Jahren lässt sich jedoch beobachten, dass vermeintlich sichere Arbeitsverhältnisse sich zunehmend zu prekären Anstellungen wandeln. Kündigungen, lange Arbeitszeiten und Stress nehmen zu, während die Hoffnung auf eine Vollzeit-Anstellung abnimmt. Anstelle des „Traums“, 40 Jahre im selben Betrieb zu arbeiten, ein Haus zu kaufen und im Alter mit ausreichend Bezügen in Pension zu gehen, werden die Lebensläufe aufgrund vielfältiger Ursachen unberechenbar und notgedrungen flexibler.

Besonders bedrückend ist es, wenn die eigene missliche Lage nicht von allen geteilt wird, sondern in einer florierenden Mehrheitsgesellschaft erlebt werden muss. Verarmung wirkt in unserer Gesellschaft demütigend, denn jene Individuen, deren Leben von begrenzten finanziellen Möglichkeiten geprägt sind, so heißt es, haben es nicht „geschafft”, sich zu verwirklichen und sich ihrer individuellen Verantwortung anzunehmen. Dass diese Menschen nur selten und nie alleine die Schuld an ihrer Armut tragen, wird von Politik und Medien jedoch oft ignoriert.

Diese Unsicherheiten fokussieren viele Menschen auf jenen Aspekt der Identität, der – von ihrer Warte aus – glasklar ist und ihnen niemand nehmen kann: Die Nationalität. Die klassischen Großparteien haben ihre Wähler/innen im Stich gelassen oder sie sogar in diese Lage manövriert, so die Erzählungen vieler Befragter. Ihre Lösungsstrategien lassen sich zwischen politischer Apathie und der Reaktivierung nationalistischer Ressentiments einordnen.

Aus all diesen Gründen ist es wichtig, dem Populismus entschieden entgegenzuwirken. Welche Stellschrauben für gesellschaftliche Mechanismen identifiziert wurden, was es für andere Perspektiven gibt und wie Demokratie im Kleinen anfangend zurück zu den Bürger/innen kommt, möchten wir daher mit euch am kommenden welt.sichten-Tag diskutieren.

Philipp Molitor