„Widerspruch ist lebensnotwendig“

Ein Interview von Marcel Kneuer mit unserem ehemaligen Jungscharseelsorger Gerald Gump über seinen persönlichen Zugang zu Gehorsam und Ungehorsam. 

Marcel Kneuer: Fällt dir eine Situation ein, in der du als Kind ungehorsam warst?

Gerald Gump: Grundsätzlich war ich ein sehr braves Kind, aber wenn ich genau überlege fällt mir schon manches ein. Für zu Hause fallen mir die Abende ein, als meine Eltern weg waren und wir zu zweit bzw. zu dritt dann Gehorsamkeit bezüglich Fernseh-Zeiten eklatant übergangen haben. Da gab es den Platz beim Fenster, wo wir beim Blick runter genau gesehen haben, wann das Auto kommt. Wobei wir uns wirklich eingebildet haben, dass die Eltern das nicht geschnallt haben. Heute bin ich mir sicher, sie haben natürlich alles mitbekommen. In der Schule war ich sehr angepasst und brav, da fällt mir jetzt nicht viel „Ungehorsames“ ein.
    
Aber in der Pfarre - ich war in Breitenfeld in Wien -  da waren wir in vielem ungehorsam. Wir hatten einen sehr lieben alten, aber zuletzt viel zu alten Pfarrer, da war das meiste, was wir als Kinder und Jugendliche gemacht haben maximal mit seiner Duldung und ist meistens hinter seinem Rücken gelaufen. Weil es anders kaum möglich war, dass wir unseren Platz gehabt haben. Da war sicherlich viel dabei, was er deshalb nicht wissen durfte, weil er es sonst verboten hätte. So war dann irgendwie ein Weg des Miteinanders möglich. Ich habe die Kirche von klein auf kennen gelernt – von meinen Eltern schon – als einen Ort wo gestritten werden kann. Ich habe von klein auf gelernt, dass wenn dir die Kirche wichtig ist, du selbst was tun musst und nicht warten darfst, bis alles „von oben“ – und ich meine hier die menschliche Leitung – kommt.

Marcel Kneuer: Ungehorsam hat einen sehr negativen Touch, aber eigentlich ist es etwas sehr wichtiges im Leben. Beispielsweise versuchen wir ja auch beim Thema „Verhinderung sexuellen Missbrauchs“ die Kinder dazu zu bringen, im entscheidenden Moment ungehorsam zu sein, Widerstand zu leisten und „Nein“ zu sagen. Auf der anderen Seite gibt es den Druck, prinzipiell gehorsam zu sein. Wie siehst du diesen Zwiespalt?

Gerald Gump: Ich glaube unter den Worten Gehorsam und Ungehorsam sammelt sich extrem viel, und die Diskussion so ab Sommer hat das für mich auch innerkirchlich gezeigt, dass da wahnsinnig viel Sinnvolles und Sinnloses subsumiert wird unter diesen Begriffen. Ich habe verschiedene Zugänge dazu:
    
Wenn ich es vom theologisch-spirituellen Grund-Zugang her denke, ist Ungehorsam vom Kern der Sache etwas für mich Falsches. Gehorsam, kommt vom gemeinsamen Horchen auf Gott. Und da ungehorsam zu sein lehne ich für mich aus dem christlichen Hintergrund heraus ab. Ich glaube das ist für alle Menschen grundsätzlicher Auftrag: Gemeinsam auf Gott hinhorchen, gemeinsam darum ringen und versuchen, das so gut es geht umzusetzen, mit all den Schrammen und Schwierigkeiten, die es dabei gibt. Gehorsam ist also etwas gänzlich anderes als geistlos-dumme Folgsamkeit.

Als zweites gibt es den Gewissensgehorsam der für mich ähnlich hochsteht. Ich kann es moralisch nie rechtfertigen, meinem Gewissen nicht gehorsam zu sein. Das ist eine ethische Forderung, die ich nicht nur im Christlichen sehe, sondern die für alle Menschen gilt. Auch hier ist Ungehorsam für mich abzulehnen – nur ist hier dieser Gehorsam etwas gänzlich anderes als ein einfaches Nachplappern von Vorgaben!

Erst danach gereiht gibt es auch weitere wesentliche Bereiche, z. B., dass ich eingebunden bin in ein Miteinander, in eine Familie, in eine Kirche, in eine Gemeinschaft, in eine Struktur, wo es eine wichtige Sache ist, auch da Gehorsam zu sein, sprich ein gemeinsames Hinhorchen, was ist jetzt nötig und mich auch nach dem richten, was Vorgesetzte sagen. Nur ist das eine untergeordnete Form von Gehorsam und hat nie den zuerst erwähnten, so moralischen hohen Stellenwert. Und in diesem Bereich kann manchmal „Ungehorsam“ eine hohe Tugend sein.
    
Jesus zum Beispiel: Seinem Vater gegenüber war er zutiefst gehorsam. In den religiösen Richtlinien seiner Zeit war er selbstverständlich drinnen und hat sie befolgt. Zugleich gab es aber Bereiche, wo er tief gespürt hat, dass das Befolgen mancher Gebote in konkreten Fällen falsch wäre, nicht Gottes Willen entspricht – und da hat er sich selbstverständlich darüber hinweg gesetzt, war so gesehen „ungehorsam“, besser eigentlich „unfolgsam“. Hier war das Nicht-Folgsam-Sein sogar eine tiefere Form des Gehorsams Gott gegenüber. Dazu gehören gut bekannte Geschichten wie „Der Sabbat ist für die Menschen da“ und am Sabbat zu heilen, Autoritäten zu widersprechen und gewohnte Traditionen über Bord zu werfen - nicht aus Jux und Tollerei, sondern weil es wichtig war.

Also das Wort „Gehorsam“ ist viel zu vielschichtig, als dass mit einem Satz alles einfach zu beantworten ist. Bis hin zu Unrechtsstrukturen: Der Ost-Kommunismus und andere Diktatoren in verschiedenen Ländern fordern strikten „Gehorsam“ ein. Dagegen „ungehorsam“  zu sein, ist im Regelfall eine hohe Tugend. Und vor allem eine mutige Geschichte, die uns gerade als Christ/innen aufgetragen ist. Nur das auch umzusetzen ist halt dann die weniger einfache Sache.

Marcel Kneuer: Glaubst du nicht auch, dass die Menschen heute zu wenig Ungehorsam sind, sie sich zu viel gefallen lassen.

Gerald Gump: Ich glaube, da wird die Situation langsam besser. Ich glaube, dass die ganze Ungehorsams-Debatte deswegen so viel Widerhall in der Öffentlichkeit gefunden hat, weil es Themen sind, die nicht nur kirchliche sind. Ich glaube die Situation, durch Vorgesetzte, durch Erwartungen der Gesellschaft, durch Strukturen, in denen ich drinnen bin, sagen wir es vereinfacht „Befehle zu bekommen“, mit denen ich aus guten Gründen nicht leben kann, diese Situation ist keine rein kirchliche, sondern eine gesellschaftlich hoch brisante. Das gibt es in den großen Konzernen, das gibt es in Parteien, das ist eine Situation, die offensichtlich gerade einen Nerv der Gesellschaft trifft. Und das ist im Regelfall eine gute Entwicklung, dass das nicht mehr einfach schweigend akzeptiert wird.

Wenn ich es vergleiche mit vor 50 oder 100 Jahren, dann glaube ich, dass es heute zunehmend Menschen gibt, die sich trauen, nicht einfach im Strom mitzuschwimmen und „Führer befiel und wir folgen dir“ zu machen, sondern – nicht aus Jux und Tollerei, nicht aus pubertärer Aufmüpfigkeit, sondern aus guten Überlegungen heraus – nicht alles mitmachen: Das halte ich für eine hohe Tugend. Das ist eine gute Entwicklung! Da ist gegenüber früheren Zeiten schon viel gewachsen. Trotzdem würde ich mir noch viel mehr wünschen. Denn es ist halt auch ein bisschen eine österreichische Art, einfach so mitzuschwimmen, mit „schauen wir einmal“ und tun wir halt „ein bisschen mit“ – wir machen zu oft lieber die Ohren zu und sehen nicht so viel. Das ist schon ein bisschen eine österreichische Geschichte auch oder sogar Wiener Spezialität.

Marcel Kneuer: Österreich hat ja nie eine echte Revolution gehabt und da sagt man auch, dass das nicht von ungefähr kommt, dass die Menschen in Österreich nie revoltiert haben.

Gerald Gump:  Aber gerade als Österreicher/in hätten wir mehr aus dem lernen können, was vor 70 Jahren war. Und das ist mir zu wenig geschehen. Also die Obrigkeitshörigkeit ist schon ein wenig extrem. Wenn der Herr in Uniform kommt oder der/die mit vielen Titeln: Dann gilt das einfach und hat ungleich mehr Autorität, egal was dahinter ist.

Marcel Kneuer: Wir haben in der Jungschar früher auf Grundkurs verschiedene Sätze zum Ordnen gehabt und zwei davon waren sich sehr ähnlich, nämlich „lernen sich in einer Gruppe einzufügen“ und „lernen sich in einer Gruppe zu behaupten“. Und ich habe in der Erinnerung, dass das Einfügen immer einen höheren Stellenwert gehabt hat, was mich persönlich auch immer etwas irritiert hat, weil ich auch eher der Widerständige bin. Müsste man beim Ungehorsam nicht auch sagen, dass man das mehr lernen muss?

Gerald Gump: Also ich persönlich bin auch nicht der widerständige Typ, ich bin eher der zu sehr angepasste, auch ich muss eher in diese Richtung dazugewinnen. Wenn ich jetzt das gesellschaftliche Leben anschaue, so gibt es sehr wohl zunehmend jene, die nicht mehr einfach bei allem mittun. Nur läuft das fast ein bisschen biedermeiermäßig: Wenn’s nicht perfekt passt, ziehe ich mich zurück in meinen kleinen Klub von Gleichgesinnten, in meine Familie, meinen Freundeskreis oder meine Cliquen.

Ich würde mir für einen guten Zugang wünschen, dass Menschen sich nicht zurückziehen in ihre kleine Kemenate, wo sie dann ihr Spezialleben für sich und ihresgleichen allein finden und dann daraus eine große Unverbindlichkeit wird. Das erlebe ich in der Gesellschaft stark und ich glaube das ist schwierig für eine Gesellschaft, wenn die Mitverantwortung schwindet. Ich halte es für wichtig, kräftig drinnen zu bleiben, meines beizusteuern und auch - falls nötig - widerständig zu sein. Also ich glaube es gibt eine Entwicklung, die aber teilweise in eine falsche Richtung geht, nämlich nicht in eine gesunde Widerständigkeit, die einen Verband, eine Gemeinschaft, einen Staat, eine Kirche weiterbringt. Heute geht’s eher dahin, dass sich viele – sobald nicht alles passt – in ihre Kleinbereiche zurückziehen. So nach dem Motto „Ich lasse dich in Ruhe, du lässt mich in Ruhe und so kommen wir miteinander aus“.

Marcel Kneuer: Ist das aber nicht auch das klassische Problem von vielen Pfarrgemeinden heute? Da lebe ich mein Leben, alles andere ist weit weg und wenn es vorbei ist, ist es halt vorbei.

Gerald Gump:
Das gibt es glaube ich in mehreren Ebenen. Da gibt es das „Hauptsache bei uns geht es gut, in meiner Gruppe, in meiner Pfarre und der Rest der Welt kann mir den Buckel runter rutschen“, auch kirchlich. Das halte ich für falsch, weil es erstens einmal in der Realität falsch ist. Der nächste Pfarrer wird durch den Bischof bestimmt, um ein Beispiel zu nennen. Also ich denke, wenn ich dieses größere Miteinander nicht bedenke, dann fällt es uns irgendwann auf den Kopf – hier ist Ernstnehmen der Mitverantwortung gefragt!

Das gibt es aber auch in anderen Ebenen: Die starke Tendenz mir genau nur das aufzusuchen, was für mich hundertprozentig passt – und den Rest lasse ich beiseite… Auch in meiner Pfarre erlebe ich das. Das führt dazu, dass manche Feste, Gottesdienste, Veranstaltungen für viele passen, aber die schwierigeren Sachen, die Mühen des Alltags, die kommen dann manchmal unter die Räder, weil da habe ich nicht unbedingt immer Lust dazu. Und ich kann glaube ich Miteinander, Gesellschaft und Gemeinschaft nicht nur auf dem aufbauen, wozu ich persönlich gerade Lust habe und was für mich hundertprozentig passt. Da würde ich mir mehr ein drinnen Bleiben, ein notfalls auch sehr kritisches drinnen Bleiben wünschen.

Marcel Kneuer: Apropos Pfarre: Würdest du sagen, dass sich die Leute trauen, dir zu widersprechen in deiner Pfarre?

Gerald Gump:
Ja, das erlebe ich. Das ist natürlich zuerst unangenehm, das stört mich zuerst einmal. Unterm Strich bin ich dann heilfroh, dass sie es tun. Ich erlebe bei mir oft, dass ich zuerst eine gewisse Zeit brauche, bis ich von einem ersten „Was fällt denn der oder dem ein“ - weil eigentlich weiß ja nur ich, wo es lang geht - draufkomme, dass der Heilige Geist doch nicht meine Privatpachtung ist. Gefühlsmäßig ist es mir nicht angenehm – und doch weiß ich natürlich, wie lebensnotwendig Widerspruch ist. Wenn im Extremfall es dazu käme, dass alle das sagen, was der Pfarrer will oder auf höheren Ebene der Bischof will: Es wäre der Tod jeder christlichen Gemeinde, das ist dann nur mehr ein im Gleichschritt Gehen nach dem, was zufällig der jeweilige Führer sagt, bis zu Extremformen wie wir sie hatten vor 70 Jahren.

Marcel Kneuer: Was würdest du heute jungen Menschen, Jung­schargruppenleiter/innen zum Thema Gehorsam/Ungehorsam empfehlen?

Gerald Gump:
Das Sinnvollste wäre für mich am Zugang zu Gott und am eigenen Gewissen zu arbeiten. Ich denke, das Gewissen schulen, das Hinhorchen auf die eigene innere Stimme, wo denke ich Gott zutiefst zu Hause ist. Und als Folge daraus gehört, dass ich das nicht für mich alleine leben kann. Konsequenz meines Gewissens und des Horchens darauf ist auch, dass ich eingebunden bin in eine Gemeinschaft und auch die Gemeinschaft etwas braucht und fordert. Mein Gewissen sagt mir auch, dass ich nicht nur das tun kann, worauf ich gerade Lust habe und mir augenblicklich Spaß macht – Gott und dem Gewissen gegenüber gehorsam zu sein heißt für mich, manch auch unangenehme Konsequenz zu ziehen, manch nicht so Tolles zu tun und zu leben. Im wirklich ehrlichen und gemeinsamen Hinhorchen auf Gott werde ich dann den richtigen Weg gut finden können…

Gerald Gump ist seit 1999 Pfarrer in Schwechat, Mitglied im Vorstand der Pfarrer-Initiative und war von 2000-2006 Jung­scharseelsorger in der Erzdiözese Wien.