Von der Gefahr der Überwachung

Überwachung bedeutet Sicherheit – oder? Überwachung bedeutet Freiheitsverlust – na und? Überwachung kann gefährlich sein – für mich? Widerstand gibt es wenig – warum?

Washington D.C. im Jahre 2054: John Anderson, ein Polizist, wird verfolgt, weil ihm vorhergesagt wurde, dass er demnächst einen Mord begehen wird. Eine Flucht ist ziemlich schwierig, weil an allen öffentlichen Orten Scanner installiert sind, die jede/n Passanten/in durch Iris-(Augen)-Erkennung identifizieren. So beginnt der Film „Minority Report“, der vor einigen Jahren in den Kinos gelaufen ist. Alles nur Phantasie?

Wer sich heute selbst in einer „normalen“ Stadt wie Wien umsieht, muss feststellen, dass Videokameras schon ziemlich allgegenwärtig sind. Ob in der U-Bahn, der Straßenbahn, an großen öffentlichen Plätzen oder an vielen Geschäften. Leider also doch schon ein wenig Realität, obwohl wir von den Vorstellungen, wie es in 45 Jahren aussehen soll, doch noch weit entfernt sind. Wirklich?

Werfen wir einen Blick nach Großbritannien, dem Vorzeigeland im Bereich der Videoüberwachung. Denn alleine in London gibt es 600.000 Überwachungskameras. Über die neueste Entwicklung im Bereich der Überwachung berichtete am 7.August 2009 die Tageszeitung Kurier mit der Schlagzeile: „(A)Soziale Dauerbeobachtung – Problemfamilien müssen sich in Großbritannien rund um die Uhr überwachen lassen. Wer nicht mitmacht, dem drohen Sanktionen.“

Berichtet wir darüber, dass im Jahr 2009 in Großbritannien bereits 2000 sogenannte „Problem-Familien“ in Wohnungen leben, die rund um die Uhr von Kameras überwacht werden. Der zuständige Minister Ed Balls hat das Programm gerade auf 20.000 Familien aufgestockt. Die Kosten: umgerechnet fast 470 Millionen Euro.

Als Problem-Familien gelten dabei Eltern, die alkohol- oder drogenabhängig sind, ihre Kinder nicht mehr zur Schule schicken und staatliche Hilfe ablehnen. Sie werden vor die Wahl gestellt, entweder in eine der sogenannten „Sin Bins“ (übersetzt „Strafbank“) zu ziehen, wo sie unter permanenter Video-Überwachung stehen, oder man nimmt ihnen die Kinder weg bzw. schmeißt sie aus ihrer Wohnung. Die Regierung sieht das nicht als Zwangsmaßnahme, sondern als Hilfe für hoffnungslos Asoziale. Wie weit sind wir wirklich vom Jahr 2054 entfernt?

In Humberside (GB) nutzt die Polizei Videokameras, um Jugendliche in ländlicher Umgebung zu filmen. Das Interesse besteht weniger darin, einzelne Jugendliche bei Straftaten zu erwischen, als vielmehr Eltern durch das Vorführen der Bilder über das Verhalten ihrer Kinder aufzuklären. Wann ist es in Österreich soweit?

Wo ist der Erfolg?

Bei soviel Überwachung müsste man eigentlich meinen, dass London und Großbritannien die sichersten Gebiete in Europa sind. Das Gegenteil ist der Fall. Die Kriminalität ist in England in den vergangenen fünf Jahren stark gestiegen. Messerstechereien unter Londons Jugendlichen sind das auffälligste Phänomen. 2005 untersuchte das Innenministerium in London, ob die Kameras mehr Sicherheit bringen. Das Ergebnis war ernüchternd: Die Kriminalitätsrate in den überwachten Gebieten sank praktisch nicht. Und selbst das subjektive Sicherheitsgefühl stieg nur sehr gering.

Was da passiert, ist relativ einfach festzustellen: Dort wo es Videokameras gibt, verringert sich die Kriminalität teilweise. Dafür verlagert sie sich an die nächste Straßenecke, wo es dann keine Kameras mehr gibt. Die Kriminalität selbst wird damit nicht bekämpft. Im Gegenteil: Wie man in Großbritannien sieht, fehlen dann die enormen Summen, die in die Videoüberwachung gesteckt werden für soziale Maßnahmen. Und weil es zu wenig Sozialarbeiter/innen, Jugendbetreuer/innen, Mediator/innen, etc. gibt, steigt dann noch die Kriminalitätsrate.

Die extreme Form davon gibt es dann in Städten wie Rio de Janeiro. Dort gibt es auf der einen Seite gut bewachte Viertel, wo die reichen Menschen leben und es fast keine Kriminalität gibt. Und auf der anderen Seite gibt es die Favelas, wo es keine Überwachung gibt, wo die Armen leben und wo die Kriminalität blüht. Warum muss man Arme bekämpfen statt die Armut zu bekämpfen?

Überwachung ist einfach

Dass Überwachungskameras eigentlich fast nichts bringen, sehen dann nur mehr die Expert/innen, die im Nachhinein diese Maßnahmen analysieren. Auf den ersten Blick sind Überwachungskameras eine gute Maßnahme. Es gibt eine Bedrohung im öffentlichen Raum und durch Überwachungskameras können wir sie wieder beherrschen bzw. rückgängig machen.

Dass Überwachung das Problem nicht an der Wurzel packt, sondern nur woandershin verschiebt, wird dann gar nicht mehr bemerkt. Und traurigerweise nicht nurvon der „einfachen“ Bevölkerung, sondern auch von den meisten Politiker/innen. Natürlich ist es wesentlich schwieriger, mit sozialen Maßnahmen auf soziale Probleme zu reagieren als mit Überwachung, aber eigentlich sollte das keine Ausrede sein. Trotzdem ist der Widerstand sehr gering. Wollen wir im Minority Report enden?

Der Berliner Datenschutzbeauftragte Alexander Dix befürchtet auch, dass Videoüberwachung das Wegsehen fördert: „Man muss auch beachten, dass eine flächendeckende Einführung von Videoüberwachung die Unkultur des Wegsehens fördern würde. Das heißt, die Leute würden sich darauf verlassen: Die Verkehrsbetriebe haben das alles auf Film, da muss ich mich um meinen Nachbarn nicht mehr kümmern.“

Wer bestimmt was eine Gefahr ist?

Eine sehr entscheidende Frage ist, wer denn eigentlich überwacht bzw. aus dem öffentlichen Raum vertrieben werden soll. Kriminelle sind es in der Regel eher selten, denn die versammeln sich nicht an einem bestimmten Ort, um dort zu stehlen oder Gewalt anzuwenden. Und selbst dort, wo es eher gehäuft zu Diebstählen kommt wie in der Wiener U-Bahn, haben Überwachungskameras keinen signifikanten Erfolg gezeigt.

Als Gefahr werden dann als erstes jene Menschen betrachtet, die am Rande der Gesellschaft stehen: Bettler/innen, Drogensüchtige, Straßenmusiker/innen, Jugendliche,... Sie alle „stören“ das Straßenbild. Während Werbetafeln, über die man alle paar Meter in Einkaufsstraßen stolpert, kein Problem sind, werden Menschen mit allen möglichen Argumenten von dort vertrieben. Am stärksten merkt man das in Bahnhöfen, die früher ein öffentlicher Ort waren, wo sich Menschen aller Schichten aufgehalten haben. Heute haben Menschen, die am Rand leben, in einem Bahnhof nichts mehr verloren. Sie werden von Securitys rasch vertrieben. Das Gleiche gilt auch für die Mariahilfer Straße. Obwohl die Geschäfte hier florieren wie fast nirgends sonst in Wien, versuchen viele Geschäftsleute immer wieder Menschen, die ihnen nicht gefallen zu vertreiben oder vertreiben zu lassen. Und damit wird ihnen ein großes Stück ihrer Freiheit genommen. Warum lassen wir uns das gefallen?

Wem gehört der öffentliche Raum?

Eine zentrale Frage der Überwachung ist natürlich die Frage, wem der öffentliche Raum gehört. Der Wirtschaft, den Politiker/innen, den Saubermacher/innen oder allen Menschen? Und wann ist Schluss mit der Suche nach neuen Zielgruppen? Werden zuerst die Bettler/innen vertrieben und dann die lauten Kinder? Darf man auf öffentlichen Plätzen in Zukunft noch Essen? Viele Fragen denen wir uns stellen sollten. Oder ist unsere Zukunft die Iris-Überwachung?

Müssen wir uns als Christ/innen engagieren?

Auf den ersten Blick erscheint es eher unklar, was die ganze Thematik mit dem Christentum zu tun hat. Auf den zweiten Blick wird es dann aber sehr schnell klar: Hier geht es um die Gestaltung von Lebensräumen und um Menschen, die eher am Rande der Gesellschaft stehen. Und hier haben wir als Christ/innen einen zentralen Auftrag: Wir müssen dafür sorgen, dass der öffentliche Raum für alle Menschen da ist, dass Menschen, die am Rande stehen, wieder in die Mitte geholt werden und nicht noch weiter nach außen gedrängt werden. Und damit müssen wir uns auch gegen die Überwachungstendenzen wehren, die in fast allen Fällen nur dazu führen, dass uns Sicherheit vorgegaukelt wird und den Menschen dadurch Freiheiten genommen werden.

Der Film „Minority Report“ endet übrigens mit der Abschaffung des System, mit dem man Morde vorhersehen und verhindern wollte. Die Iris-Überwachung gibt es natürlich weiterhin. Immerhin wurde ihre Grundlage bereits 50 Jahre früher geschaffen und niemand hat sich dagegen gewehrt ….

Marcel Kneuer

kumquat "Tabu" 3/2009

Buchtipps:

  • Philip K. Dick: Minority Report
  • Georg Orwell: 1984
  • Aldous Huxley: Schöne neue Welt
  • Hanna Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft
  • Ray Bradbury: Fahrenheit 451
  • Ilija Trojanow, Juli Zeh: Angriff auf die Freiheit

Filmtipps:

  • Minority Report
  • Fahrenheit 451
  • Brazil
  • Das Leben der Anderen
  • City of God