Vorbild sein

Als Gruppenleiter/in bist Du ein Vorbild für die Kinder – Diesen Satz kennst Du wahrscheinlich. Vielleicht hast Du ihn auch schon in der vorwurfsvollen Variante zu hören bekommen: Als Gruppenleiter/in solltest Du (eigentlich!) ein Vorbild für die Kinder sein! Da schwingen dann mehrere Botschaften mit: Ansprüche, Erwartungen an ein bestimmtes Verhalten, Kritik oder Misstrauen, Ungeduld, Sorge, Zweifel, ...

Lassen wir diese Fremdzuschreibungen beiseite und betrachten wir das, was „Vorbild“ im engeren Sinn meint, nämlich das Entstehen und Sich-Weiterentwickeln einer besonderen Beziehung zwischen Dir und den Kindern.

Hast Du Dir schon einmal die Frage gestellt, was diese Kinder für Dich bedeuten? Sind sie „Deine Kinder“? Sind sie eher wie jüngere Geschwister oder kleine Freunde und Freundinnen? Möchtest Du ihnen etwas übers Leben beibringen oder willst Du etwas dazu beitragen, daß sie ihren christlichen Glauben weiterentwickeln? Sind sie also Deine Lebensschüler/innen?

Was mag die Beziehung zwischen den Kindern einer Jungschargruppe und ihrer/ihrem Gruppenleiter/in wohl am besten beschreiben? Es gibt eigentlich keinen geläufigen Begriff dafür in unserem Wortschatz. Das mag ein Hinweis darauf sein, daß sich diese Beziehung nicht einfach definieren läßt, daß sie vermutlich auch weit über das hinausreicht, was gemeinhin unter der Zuschreibung „Vorbild“ verstanden wird.

Wie mögen Dich die Kinder selbst sehen - und welche Erwartungen haben sie wohl an eine Beziehung mit Dir?

Beginnen wir bei den Äußerlichkeiten. Da spielt zunächst einmal Dein Alter eine wichtige Rolle: Ein Kind wirst Du vermutlich nicht sein. So banal das klingen mag, es hat eine wichtige Konsequenz: Du bist nicht eine oder einer von ihnen. Die Kinder werden Dich immer als jemand anderen wahrnehmen und Dich instinktiv auch von jenen Dingen ausschließen, die sie wirklich nur unter sich besprechen oder aushandeln wollen.

Vielleicht gehörst Du zur Erwachsenen- oder Elterngeneration. Dann werden die Kinder Dich mit den eigenen Eltern vergleichen, und Du wirst vor allem in Deinen mütterlichen oder väterlichen Fähigkeiten gefordert sein.

Die meisten Jungschargruppenleiter/innen gehören altersmäßig einer Zwischengeneration an. Sie sind Jugendliche und junge Erwachsene. Für die Kinder sind das jene Menschen, an denen sie gut beobachten können, wie man erwachsen wird. Entsprechend neugierig werden sie Dir gegenübertreten, weil Du ihnen auf diesem Weg eben nur ein Stückchen voraus bist.

Was heißt das fürs „Vorbild“-Sein? Die Kinder sehen an Dir, wie sie selbst womöglich einmal älter werden und was das für sicht- und spürbare Auswirkungen haben kann. Will ich selber auch so größer und älter werden? – diese Frage stellen sich die Kinder.

Vorbild in der Geschlechter-Rolle

Ein anderes: Du bist eine Gruppenleiterin oder ein Gruppenleiter, also eine Frau bzw. ein Mann. Das ist ein äußerliches Merkmal mit individuellen wie auch von der Gesellschaft bestimmten Aspekten, wonach die Kinder ihre Beziehung zu Dir ausrichten und gestalten werden. Zum Beispiel in der Art und Weise wie sie körperliche Nähe suchen oder Distanz wahren. Kinder finden rasch heraus, mit wem es sich leichter raufen und von wem es sich besser trösten läßt, aber auch wer eher fürs Kuscheln und wer fürs Herumtollen „zuständig“ ist. Wenn Du Gruppenleiter, also ein Mann bist, dann bist Du in dem Lebensfeld von Kindererziehung, Schule, Freizeitbetreuung eher eine Ausnahme bist. Auch in der Jungschar sind 3 von 4 Gruppenleiter/innen Frauen.

Kinder sind natürlich neugierig, wie Du als Frau, als Mann bist, denkst, auftrittst - und natürlich auch wie Du mit anderen Männern bzw. Frauen umgehst. Sie werden sich für Deinen Freund oder Deine Freundin bzw. Deine/n Ehe- oder Lebenspartner/in interessieren. Je älter sie werden, umso konkreter werden sie Dich danach fragen, weil Verliebtsein und Freundschaft für sie ein wichtiges Thema wird.

Inhaltliches Vorbild

Apropos Thema: In der Jungschargruppe geht es immer auch um Inhaltliches, um Botschaften. Unabhängig davon, was Du Kindern vermitteln möchtest, sie werden prüfen, ob Du echt bist. Das heißt, sie werden versuchen herauszufinden, ob das, was Du sagst zu dem paßt, wie sie Dich erleben, was Du tust, wie Du Dich in bestimmten Situationen verhältst, wie Du mit anderen Menschen umgehst. Kinder sind gute Beobachter/innen und entwickeln ein feines Gespür dafür, ob es jemand mit ihnen ehrlich meint - oder nur so tut als ob. Die Kinder erwarten sich nicht von Dir, dass Du vollkommen bist. Sie wollen vielmehr wissen, wie Du mit Fehlern umgehen kannst, ob Du auch Irrtümer eingestehen kannst, ob Du die Ansprüche, die Du an sie stellst auch selbst bereit bist zu erfüllen.

In eurem Zusammensein wird sich manches um sehr grundlegende Fragen des Menschseins und des (Zusammen-)Lebens drehen. Das beinhaltet die Auseinandersetzung mit Gut und Böse, mit Fragen nach dem Sinn und Ziel des Lebens, mit Werthaltungen und Moralvorstellungen. Kinder erleben oft, dass Erwachsene ihnen mit hohen Anforderungen gegenübertreten, selbst aber in ihrer Alltagspraxis ein ganz anderes Bild vermittelt.

Vorbild als Christ/in

Jungschararbeit vollzieht sich nicht im leeren Raum, sondern in einem besonderen Naheverhältnis zur Katholischen Kirche. Das ist auch ein Teil Deiner Rolle als Gruppenleiter/in. Die Kinder werden Dich immer auch als Repräsentant/in dieser Kirche sehen und verstehen. Sie haben auch mit anderen Frauen und Männern der Kirche zu tun, sei es im Religionsunterricht, in der Pfarre usw. Sie beobachten Dich, wie Du es mit dem Glauben und mit der Kirche hältst. Sie werden mitbekommen, ob Du sonntags zum Gottesdienst gehst, ob und wie Du Dich auf bestimmte kirchliche Feste im Jahreskreis vorbereitest, was Du vom Bibellesen und Beten hältst und dergleichen mehr. Die Kinder werden schauen, gelegentlich werden sie Dich fragen - und sie werden für sich überlegen, ob Du ihnen da ein „Vorbild“ sein kannst. Um jetzt keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Auch für die religiösen Seiten Deines Lebens gilt das gleiche wie für die profanen. Es geht nicht darum, hier besondere Leistungen zu erbringen, also ein bestimmtes objektives (?) Bild von einem guten Christen, einer guten Christin zu repräsentieren – nein, es geht darum, ob Du auch in diesen Lebensäußerungen für die Kinder echt bist. Das Fragen und Suchen, das Zweifeln, der Widerstand und die Verirrung gehören da auch dazu.

Sei du selbst!

Fassen wir zusammen: Ein „Vorbild“ für die Kinder bist Du nicht deshalb, weil Du besonders begabt und fromm bist, oder besonders gut mit Kindern umgehen kannst. Zum „Vorbild“ wirst Du von ihnen gemacht, weil sie - und das mag für jede/n etwas anderes sein - in Dir jemanden erleben, die/der ihnen zum momentanen Zeitpunkt besonders bedeutungsvoll oder nachahmenswert erscheint. Du bist „Vorbild“, weil die Kinder sich selbst in Dir wiedererkennen bzw. im Vorwegnehmen von Zukunft in Dir jemanden sehen, die/der sie selbst einmal gerne sein möchten. Das mag mit Einschränkungen auch unter „negativen“ Vorzeichen ähnlich laufen: Wenn Kinder sich von Dir abgrenzen, mit Dir „kämpfen“, Dich als Reibebaum benützen, dann tun sie das auch, um für sich selbst „das ganz andere“ auszuprobieren bzw. sich deutlich zu machen.

Vielleicht nehmen unterschiedliche Kinder jeweils auch ganz unterschiedliche, oder gar gegensätzliche Aspekte Deiner Persönlichkeit für sich zum Vorbild. So gesehen ist es also unmöglich jemandem vorzuschreiben, wie sie oder er zu sein hat, damit sie/er als „Vorbild für die Kinder“ gelten kann. Mit einer Einschränkung, denn es gibt unverzichtbare Voraussetzungen für das Gelingen einer verläßlichen und belastbaren Beziehung zu den Kindern: Persönliche Echtheit, ein entsprechendes Einfühlungsvermögen und die Freude am Zusammensein mit den Kindern.

Sandra Fiedler

aus dem kumquat "vernetzt" 1/2011